Proteste gegen richterliche Willkür von den Stadionrängen

JUSTIZ Der Fall eines wegen Mordes verurteilten Anhängers von Dynamo Kiew mobilisiert die Fußballfans – nicht nur in der Ukraine, sondern auch über die Grenzen des Landes hinaus

VON WIKTORIA BILASCH

BERLIN taz | Schon seit einem halben Jahr schreiben die europäischen Medien nichts mehr über Fußball in der Ukraine, denn die Europameisterschaft 2012 ist lange vorbei, die Fußballfans sind nach Hause gefahren. In der Ukraine müssen keine Straßen und Stadien mehr gebaut, und am guten Image muss nicht mehr gearbeitet werden. Und dennoch: Das Thema Fußballfans ist aktueller denn je.

Seit dem vergangenen November feuern die Fans des Fußballklubs Dynamo ihre Mannschaft an, indem sie ihren Rücken zum Spielfeld drehen und die Hände über den Kopf heben. So wollen sie die Gesellschaft auf Justizwillkür in der Ukraine aufmerksam machen. Dabei geht es um Sergej Pawlitschenkow (19), einen Fan des Klubs, sowie seinen Vater Dmitri Pawlitschenkow (47).

Der Fall der Familie Pawlitschenkow begann im Februar 2010, als Dmitri Pawlitschenkow eine Pressekonferenz organisierte, bei der er versuchte, seine Wohnung gegen die niederländische Firma Gooioord zu verteidigen. Jene Firma hatte alle Wohnungen in einem Block gekauft und diese in Büros umgewandelt. Die Summe, die den Besitzern für ihre Wohnungen angeboten wurden, lagen unter deren Kaufpreis. Als sich die Pawlitschenkows weigerten, ihre Wohnung zu verkaufen, wurden sie bedroht.

Mit diesen Androhungen von Gewalt befasste sich daraufhin ein Kiewer Gericht. Im April 2010 entschied der zuständige Richter Sergej Subkow zugunsten der niederländischen Firma. Kurz darauf wurde die Familie Pawlitschenkow aus ihrer Wohnung hinausgeworfen. Drei Woche später wurde der Richter tot im Aufgang seines Hauses aufgefunden.

Kurz darauf wurden Dmitri und Sergej Pawlitschenkow unter dem Verdacht des Mordes festgenommen. Im Oktober 2012 verurteilte ein Bezirksgericht in Kiew die Angeklagten wegen Mordes – den Vater Dmitri zu lebenslanger Haft, seinen Sohn Sergej zu 13 Jahren Gefängnis. Ihre Verteidiger sind der Ansicht, dass dieser Fall „konstruiert“ war. So konnte keiner der sechs Zeugen die Beschuldigten identifizieren. Und am Tatort wurden keine direkten Beweise gegen die Pawlitschenkows gefunden.

Der Fall wäre wohl in der Öffentlichkeit nicht weiter wahrgenommen worden, da Justizwillkür in der Ukraine niemanden mehr verwundert. Doch dank des Engagements der Fußballfans wurde er in der gesamten Ukraine bekannt. Am 25. November 2012 nahmen an einer Demonstration zur Unterstützung der Pawlitschenkows in Kiew rund 3.500 Menschen teil – auch ganz normale Leute und Vertreter von gesellschaftlichen Organisationen stießen zu den Demonstranten. Auch in anderen Teilen des Landes fanden entsprechende Unterstützerdemonstrationen statt. Der Aktion „Freiheit für Pawlitschenkow“ schlossen sich auch Fans aus der Republik Moldau, Weißrussland, Russland, Tschechien, Portugal, Bulgarien sowie Polen an. Deutsche Fußballfans haben noch nicht reagiert. „Ich kenne diesen Fall nicht und bisher mir sind auch keine derartigen Solidaritätsaktionen in Deutschland bekannt“, sagt der deutsche Fanforscher Gerd Dembowski.

Andreas Rüttenauer, Sportredakteur der taz, ist überzeugt, dass die deutschen Fußballfans nichts davon halten, Politik ins Stadion zu tragen. „Das passiert nur, wenn sich die Politik in ihre Belange einmischt. Dann organisieren die Fans Protestaktionen, wie gegen die Verschärfung von Kontrollen an den Eingängen des Stadions“, sagt Rüttenauer. „Wenn deutsche Fußballfans das Thema Rassismus streifen, dann tun sie das nur im fußballerischen Kontext. Ich bezweifle, dass Proteste für Menschenrechte, so wie in der Ukraine, hier zu einem Massenphänomen werden würden.“ Derzeit ist der Fall Pawlitschenkow vor dem Berufungsgericht in Kiew anhängig.