Blinde machen Theater: Achtung, Bühnenrand

Jedes Jahr führen Schüler am Landesförderzentrum Sehen ein selbst erarbeitetes Theaterstück auf. Darin verarbeiten sie auch ihre Erfahrungen mit den Sehenden.

"Wir sind aber nicht deprimiert": bei den Proben. Bild: est

SCHLESWIG taz | Wie hört sich eine Bühne an? Und, noch wichtiger: Wo hört sie auf? Rote und grüne Matten grenzen den Raum zur Kante hin ein - wer das weiche Material durch die Sohlen fühlt, muss stehen bleiben, sonst droht Absturzgefahr. Jenseits der Matten liegt der Zuschauerraum in der Helligkeit dieses Januarnachmittags.

Bei der Aufführung selbst wird die Aula dunkel sein, einzig die Bühne beleuchtet. Für die meisten der Jugendlichen, die auftreten, singen, schauspielern, ist das allerdings ziemlich egal: Sie sind blind oder sehen nur stark eingeschränkt.

"Na ja, Umrisse erkenne ich", sagt Jule Fischer. Die 20-Jährige spielt gleich in einer ganzen Reihe von Szenen mit. Lampenfieber habe sie keins. "Das kommt fünf Minuten vor dem Auftritt", sagt Mitspielerin Katharina Tiepelmann, ebenfalls 20, und wischt sich eine hellblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Bis dahin hat die Gruppe noch einiges vor: Karl Elbl, im Hauptberuf Diplom-Pädagoge hier am Landesförderzentrum Sehen und zurzeit Regisseur, blickt bisher skeptisch drein. Schonen will er seine jungen Akteure nicht: Als sich die Gruppe zaghaft durch das Mut-mach-Lied "You'll never walk alone" quält, sagt Elbl vom Regiepult aus: "Nett, nur nicht aufführungsreif", und klingt dabei ein wenig höhnisch. Wenn nicht mehr käme als "Verein halbe Lunge", werde der Song gestrichen, fügt er hinzu. Elbl weiß aber: "Bis zur Aufführung hat es bisher immer geklappt."

Jedes Jahr veranstaltet das Förderzentrum ein Theaterprojekt wie dieses: Eine Woche lang arbeiten die Jugendlichen zusammen, entwerfen das Stück, schreiben Texte, proben. "Was wir hier machen, ist kein Wunder", sagt Elbl. "Wenn man Rücksicht auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen nimmt, geht das."

Dabei ist das Lernpensum beachtlich: Nicht nur der Text hat zu sitzen, auch die Schritte müssen gezählt werden, damit Akteure, die einander nicht sehen, nicht aneinander vorbei reden oder im Schatten stehen, statt unter dem Scheinwerfer.

Aus der Bühne wird ein Klassenzimmer: "Bildet Gruppen", fordert die Lehrerin auf, und natürlich bleibt ein Mädchen übrig: die Blinde. Weil das hier aber ein Theaterstück ist, findet sich schnell ein anderes Mädchen, tut sich mit der behinderten Mitschülerin zusammen - und merkt, wie nett die ist. Karl Elbl nickt hinter seinem Pult. "Die bisher beste Variante", sagt er. "Was nicht heißt, dass es schon richtig gut war."

Den Jugendlichen sind solche Szenen nicht fremd: "Was wir spielen, basiert auf eigenen Erlebnissen", sagt Katharina Tiepelmann. Ausgegrenzt werden in der Schule? Das kennen sie alle - denn gerade, was Blinde und Sehbehinderte angeht, hat Schleswig-Holstein die fast vollständige schulische Integration erreicht.

Theatererfahrung haben mehrere Darstellerinnen des diesjährigen Kurses bereits: Sie singen und spielen auch an ihren Stammschulen. Dennoch finden sie, dass das Theaterprojekt mit anderen Sehbehinderten mehr Spaß macht. "Wir setzen uns mehr für einander ein", erklärt der 17-jährige Kai Philipp. Und außerdem, sagt Jule Fischer, seien die Stücke in den Theater-AGs normalerweise spießiger als ihre selbst geschriebenen Texte.

Das Landesförderzentrum Sehen selbst ist eine "virtuelle" Schule, in der kein Unterricht abgehalten wird. 900 Kinder und Jugendliche gehören dazu, vom Kindergartenalter bis hin zu solchen, die ihre Berufsausbildung hinter sich haben. Sie leben in ganz Schleswig-Holstein und besuchen die Schulen an ihren Wohnorten, von der Förderschule bis zum Gymnasium.

"Ich habe an meiner Schule eine Sonderrolle, klar", sagt Tiepelmann. Jule Fischer, die ihr Abitur gemacht hat und sich derzeit aufs Studium vorbereitet, sieht milde zurück: "Ich glaube, sie hatten nichts gegen mich, aber sie hatten Angst, mit meiner Behinderung falsch umzugehen. Also haben sie mich ignoriert - oder mich fertig gemacht." "Dumme blinde Kuh" sei sie mal genannt worden, sagt Fischer. Auch Kai Philipp hatte schon "ätzende Phasen".

"Wir sind aber nicht deprimiert", sagt Katharina Tiepelmann, die trotz ihrer Sehschwäche Mangas zeichnet, und grinst. "Es muss eben jeder seinen Weg finden." Dass sie mit Nicht-Behinderten zusammen in die Schule geht, findet sie eher gut - sonst käme das dicke Ende halt nach der Schulzeit.

Dennoch sei das Förderzentrum wichtig, sagt einer seiner Leiter, Josef Adrian. Rund 60 Lehrkräfte bilden das Kollegium. Sie sind ständig unterwegs, besuchen die Kinder und beraten die Schulen, wie sie den Unterricht für Sehbehinderte gestalten können. Technik hilft, etwa Laptops mit Kameras, die das Tafelbild einfangen und vergrößert auf den Bildschirm bringen.

Adrian zeigt das Repertoire an Hilfsmitteln, das die Schule vorhält. "Hier können die Kinder ohne Druck probieren, was ihnen wirklich hilft." Neben Lupen, Lampen und besonders großen Bildschirmen hat er auch das Gegenteil im Schrank: Spezialbrillen, die einem Gesunden die Welt zeigen, wie Sehgeschädigte sie erleben: wie durch Gaze oder nur in winzigen Ausschnitten.

Teil des Förderzentrums sind auch Fachleute, die Tipps zu Mobilität, Orientierung oder Alltagsfähigkeiten geben können. Und es gibt Werkstätten, in denen Schulbücher so groß kopiert werden, dass auch Sehschwache sie lesen können. Das Medienzentrum hält Modelle für den Biologie- oder Matheunterricht bereit, die ins ganze Land ausgeliehen werden.

Förderzentrumsleiter Adrian ist es wichtig, dass die Jugendlichen sich treffen und austauschen können. Regelmäßig finden Kurse statt, darunter eben auch der Theaterkurs: "Kinder trauen sich hier auf die Bühne", sagt er, "und kriegen Applaus."

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