Besetzung statt Bescherung

HU BERLIN Damit der Bildungsstreik nicht in den Ferien abbricht, hält eine Gruppe Studierender das Audimax besetzt und feiert mit Kindl-Bier und veganem Dessert ein Weihnachtsfest, das nicht so heißt

Besetzt: An der FU Berlin durften die Studierenden bleiben, nachdem sie ihre Personalien offengelegt hatten. In Heidelberg, Würzburg, Köln, Karlsruhe, Trier und Schwäbisch Gmünd gingen die Besetzungen weiter. An der Münchener LMU lässt seit dem 25. Dezember der Sicherheitsdienst niemanden mehr ins Gebäude rein.

Geräumt: Das Wiener Audimax wurde am 21. Dezember von der Polizei geräumt. Geräumt wurden außerdem die Ruhr-Uni Bochum und die Uni Hamburg.

Aufgegeben: In Göttingen gaben die Besetzer auf, als klar wurde, dass eine polizeiliche Räumung droht und im besetzten Gebäude über die Weihnachtsferien Strom und Heizung abgeschaltet würden. In Stuttgart gingen die Studierenden freiwillig nach Hause, wollen aber im neuen Jahr die Besetzung wieder aufnehmen. (sto)

AUS BERLIN EMILIA SMECHOWSKI
UND MARGARETE STOKOWSKI

Berlin-Mitte, Heiligabend, 20 Uhr. Im Dom beginnt der Abendgottesdienst. Es ist voll, viele kamen schon vor einer Stunde, um sich Plätze zu sichern. Die Stimmung ist andächtig, schließlich ist Weihnachten. 400 Meter weiter, im Audimax der Humboldt-Universität (HU), ist das „Sterni“ alle. Zwei Studierende werden zum nächsten Spätkauf losgeschickt, um den Vorrat mit dem billigsten aller in dieser Stadt gehandelten Biere aufzufüllen. Ein wenig weihnachtlich mutet es auch hier an: Im Foyer des Audimax steht ein kleiner Plastikbaum am Fenster, geschmückt mit Schleifchen aus Klopapierfetzen, einer bunten Lichterkette und Resten von rotem Lametta. Auch wenn die Besetzer des Audimax ihr Fest nicht Weihnachten nennen wollen, sondern ein „Wir-sind-hier-Fest“, wie die 28-jährige Ethnologiestudentin Ina erzählt. Sie ist eine von 20 Streikenden, die auch an Heiligabend das Audimax besetzt halten.

Wohnzimmer Audimax

„Wir finden es wichtig, den Streik diesmal nicht in den Weihnachtsferien zu unterbrechen“, erläutert Ina weiter. Denn die Erfahrung aus Streiks vergangener Jahre habe stets gezeigt, dass mit den akademischen Ferien auch die Aktivitäten der Studierenden endeten. Man fuhr über Weihnachten nach Hause, um danach zum gewohnten Unibetrieb zurückzukehren. Auch beim diesjährigen Bildungsstreik scheint sich dies vielerorts zu wiederholen: Viele Studierende sind über Weihnachten zu ihren Familien gefahren, einige Hörsäle wurden polizeilich geräumt. Aber es gibt auch Universitäten wie die Humboldt, an denen die Studierenden ausharren wollen.

Seit dem 11. November schlafen Studierende hier, mittlerweile hat sich im Hörsaal und dem dazugehörigen Foyer eine Wohnzimmeratmosphäre verbreitet: Sofas und Sessel stehen herum, Geschirr türmt sich neben Demoplakaten. Sollten die Streikenden doch über die Feiertage nach Hause gehen, steht, so versichert es die Universitäsleitung schriftlich, einer erneuten Besetzung nach den Ferien nichts im Wege.

Doch darauf will sich Ina nicht verlassen. Überhaupt ist sie bisher zufrieden. Vor allem gefällt ihr, dass es im Streik keine „Gallionsfiguren“ gebe. „Alles ist ganz entspannt organisiert.“ An die Zeitpläne halte sich niemand sklavisch. Trotzdem werden sie auf der Internetseite ständig aktualisiert: Zumindest online präsentiert sich der Bildungsstreik wie ein wohlorganisiertes Unternehmen.

Nur beim Thema Weihnachten waren sich die HU-Streikenden lange nicht einig: Das Fest ausfallen lassen? Eine Punkparty veranstalten? Erst wenige Tage vor den Feiertagen fand man einen Kompromiss: Mit einem Wir-sind-hier-Fest konnten sich die meisten gut abfinden – bis auf ein paar wenige, die die Ferienzeit lieber für „inhaltliche Arbeit“ genutzt hätten.

Zum Wir-sind-hier-Fest ist sogar Inas Familie gekommen. „Streiken kann man nicht nur, wenn es bequem ist“, sagt Inas Vater Wladimir. Er ist aus Kassel angereist, um seine Tochter zu unterstützen, und freut sich über das außergewöhnliche Fest: „Weihnachten ist sonst so stinklangweilig. Alle sitzen rum und beschenken sich mit unnötigem Zeug. Schrecklich.“ Unnötiges Zeug gibt es beim Wir-sind-hier-Fest nicht. Ganz im Gegenteil: Die Zutaten für das heutige Ratatouille sind genau abgezählt. „Schließlich muss das Essen für vier Tage reichen“, erklärt Ina. In einer Reihe liegen die Pappkisten mit den Nahrungsmitteln, die aus Spenden gekauft oder aus Supermarktcontainern gesammelt wurden.

Ein Kindl zum Festtag

Eine Stunde später ist das Bier da. Heute gibt es Kindl statt Sternburg Export. „Ist das zur Feier des Tages?“, witzelt die Runde. Während die einen im Foyer beginnen das Gemüse zu schnippeln, kommen andere verschlafen aus dem Audimax. Dass das Essen ursprünglich für 19 Uhr geplant war, stört hier niemanden. Störend ist nur, dass es nicht genügend Brettchen gibt. So müssen zerrissene Pappkartons herhalten, damit Paprika, Zucchini und Champignons geschnitten werden können. Währenddessen dekoriert Inas Mutter die Tafel: Auf ein paar zusammengestellten Tischen verteilt sie rote Papierservietten mit goldenen Sternchen, Tannenzweige und Teelichthalter aus Eierkartons. Ganz ohne Weihnachtsdekoration geht es dann doch nicht.

Gleich zu Anfang der Besetzung hatten die Streikenden beschlossen, vegan zu kochen, obwohl die meisten keine Veganer sind. Das sorgt zwischendurch für Verwirrung. Als Lenas Mutter ein Salatdressing aus einer Fertigmischung zubereiten will, wird sie sofort aufgeklärt: „Da ist Milchzucker drin!“ Nur wenn dieser explizit als nichttierisch aufgelistet wird, gelte er als vegan. So wird eine zweite Schüssel geholt, der Salat aufgeteilt, ein zweites Dressing gerührt und ein Pappschild geschrieben: „Achtung, nicht vegan!“

Streiken für den Staat

Das Ratatouille köchelt auf einem Campingkocher vor sich hin. Sebastian kann es kaum erwarten: „Endlich mal richtiges Essen. Wir hatten hier bisher immer nur so wässrige Suppen.“ Fast wie in einem gutbürgerlichen Haushalt ertönt plötzlich der Jingle der „Abendschau“. Auch am 24. Dezember verfolgt eine kleine Gruppe des Presseteams über das Internet die Berichterstattung .

Dann gibt es endlich Essen. „Das Buffet ist eröffnet“, ruft Ina. Die ungemütlich grelle Beleuchtung im Foyer wird einfach ausgeknipst, bei Kerzenschein sitzen die Studierenden an der langen Tafel und essen Ratatouille und Salat. Jemand hat Reggaemusik angemacht, im Hintergrund hört man „Many Rivers to Cross“ von Jimmy Cliff. Auch wenn die Streikenden noch viele Flüsse zu überqueren haben, ihr Ziel, die Besetzung über Weihnachten aufrechtzuerhalten, haben sie jedenfalls erreicht.

Die Stimmung am Tisch ist entspannt. Man spricht über Foucaults „Ordnung der Dinge“, die Zukunft des Bildungsstreiks und unterschiedliche Tofusorten – denn das Dessert gibt vielen ein Rätsel auf. „Ben hat es zubereitet, es ist eine Art Mousse au Chocolat“, sagt Ina. Die vegane, braune Masse aus Seidentofu, Bitterschokolade, Puderzucker und Zimt trifft nicht jedermanns Geschmack. „Mit Früchten geht’s“, meint Dennis trocken.

Auch Linda findet die Nachspeise gewöhnungsbedürftig. Aber die 22-Jährige freut sich, an diesem Heiligabend in der HU zu sein. Sie studiert Kulturwissenschaft in Basel und hat mit anderen Studierenden ihre Uni vor einiger Zeit auch besetzt. „Leider hat das Ganze nur eine Woche gedauert“, bedauert sie. Da sie aus Berlin kommt und über die Ferien bei ihren Eltern ist, konnte sie heute Abend beides verbinden: erst Bescherung, dann Besetzung.

Auf das Essen folgt im Audimax eine Jamsession: Inas Vater Wladimir ist Musiker und hat seine Jazzgitarre mitgebracht, Robert greift sich eine Akustikgitarre; sie beginnen zu improvisieren. An Weihnachtsliedern versuchen sie sich erst gar nicht. Später sagt Wladimir, er glaube ohnehin nicht an Gott: „Ich lebe nach Voltaires Grundsatz: Der Mensch kann nicht gleichzeitig denken und glauben.“ Auch mit den Grundsätzen des Bildungsstreiks hat er sich auseinandergesetzt. Während viele Studierende sich in einem Kampf gegen den Staat sehen, gilt für ihn das Gegenteil: „Ich streike für den Staat. Die Zukunft braucht gebildete Köpfe, und wir müssen genau darin investieren.“ Besonders gefällt ihm der Austausch zwischen den Generationen. So wie Ina früher von ihm gelernt habe, so lerne er jetzt von ihr. Deswegen möchte er den Streik so unmittelbar wie möglich erleben. Dazu gehört auch auf einer Isomatte im Hörsaal zu übernachten.

Inas Mutter Lena gähnt. Sie sind heute Morgen schon um 5 Uhr aus Wiesbaden aufgebrochen, um rechtzeitig für die Weihnachtsvorbereitungen in Berlin zu sein. Es war Lenas Vorschlag, ihre Tochter im Audimax zu besuchen. Gegen Ende des Heiligen Abends erinnert die Stimmung immer mehr an eine durchzechte WG-Party im Morgengrauen. Haschkekse werden herumgereicht, nur wenige greifen zu. Die Studierenden fläzen sich in den ausgeleierten Sofas.

Draußen auf den Straßen ist es mittlerweile totenstill. Nebel liegt über der Stadt. Doch im Innenhof der HU sieht man immer noch durch die Mosaikfenster des Audimax das schummrige Kerzenlicht brennen. Das Bild wirkt beinahe sakral, die nächtliche Ruhe verleiht selbst den schlaff hängenden Streiktransparenten etwas Weihevolles. Schon um halb zwei löschen auch die Studierenden das letzte Licht.

Für die Feiertage haben sie noch Schrottwichteln, Leseabende und eine Old-School-Punk-Party geplant – bis im neuen Jahr die „inhaltliche Arbeit“ in den Initiativgruppen weitergeht.