Salon-Sozialist und Supersnob

NOUVELLE CHANSON Dass Benjamin Biolays aktuellem Album „Vengeance“ nicht nur in Frankreich so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, liegt auch an seiner Boulevard-Präsenz. Ohne die Geschichtchen bleibt vom Songwriting nämlich nicht viel: Etwas Rauch, eine Prise Erotik und Gainsbourg im Sinn

Weshalb dreht gleich halb Gazetten-Europa durch, wenn in Frankreich ein Popalbum erscheint, das ausnahmsweise nicht nur Franzosen hören wollen? Steckt sie bereits in der Frage – die Antwort? Denn natürlich ist halbwegs relevanter Pop aus Frankreich ein seltener Fall.

Angenommen, der 39-jährige Wahlpariser Benjamin Biolay wäre bloß irgendein Musiker mit einem Faible für französisches Liedgut (à la Serge Gainsbourg und Edith Piaf) und einem zuletzt deutlich erstarkten Interesse für anglophilen Indie-Pop, Mainstream-HipHop, Popelektronik und New Wave, wie ihn New Order oder The Smiths spielten, dann … nichts.

Des Rätsels naheliegende Lösung für all die Aufmerksamkeit, die Biolay und seinem jüngsten Album „Vengeance“ zuteil wurde, liegt, na klar, auf dem Boulevard, wo es Biolay zuletzt, als kettenrauchender Supersnob und respektloses Großmaul geziehen, nicht ganz leicht hatte.

Zwar verhalf Biolay dem karibischen Chansonnier Henri Salvador zu einem Comeback, beförderte das Ansehen des Nouvelle Chanson mit seinem Debüt „Rose Kennedy“ (2001) und produzierte seither viele namhafte Künstler. Doch trotz all seiner guten Taten gab er sich derart arrogant und unfreundlich, tauchte gleichzeitig immer und überall auf, dass ihn bald halb Paris hasste und entsprechend hämisch reagierte, als Biolays Ehe mit der Schauspielertochter Chiara Mastroianni in die Binsen ging.

Biolay war laut französischer Klatschpresse mit Vanessa Paradis zusammen, just als die sich gerade von Johnny Depp getrennt hatte. Heikel! Angeblich hatte er, der selbsterklärte Salon-Sozialist, sogar eine Affäre mit Carla Bruni – ausgerechnet! Hilft ihm die dicke Freundschaft zu Frankreichs Präsident Hollande darüber hinweg? Oder bleibt er für immer haften, der Makel des fatalen Verdachts, mit der falschen Dame im Bett gelegen zu haben? Man wüsste es ja zu gern, weiß es aber einfach nicht.

Biolay spielt das große Frage-und-Antwort-Spiel bloßgelegter Intimitäten äußerst bereitwillig mit. Selbstverständlich fletscht er die Zähne, wenn es in Interviews wie immer um sein Privatleben geht: „Das ist typisch französisch!“, wettert er dann los, verweist auf Frankreichs generelles Desinteresse an Musik, erzählt, dass die Menschen, obwohl sie keinen seiner Titel nennen könnten, ihn dreist auf der Straße ansprechen würden, um ein Foto mit ihm zu machen. Nun, er sieht ja auch auffallend gut aus mit diesen interessant verlebten Benicio-Del-Toro-Augenringen. Schon ist das Foto im Kasten.

Und was bliebe auch groß ohne all die Geschichten und Geschichtchen? Etwas Rauch und eine Prise Erotik in der Stimme, Gainsbourg im Sinn, ein paar lakonische Elegien über die Liebe, ein irgendwie niedliches Duett mit Vanessa Paradis, in dem sie davon singen, das Leben genießen zu wollen, nun ja. Rock, Pop, französische Balladen, ergänzt um oben genannte musikalische „Neuerungen“. Dick aufgetragen in vielen Momenten, viel zu dick eigentlich, denn das Songwriting darunter ist stellenweise ziemlich dünn, keineswegs zwingend, und spätestens nach seiner Deutschland-Tour – Schnee von gestern.  MICHAEL SAAGER

■ Hamburg: Sa, 23. 2., Mojo, Repperbahn 1