Gefühlte Zahl: sehr klein

Nach der Berliner Kampagne gegen ALG-II-Bezieher: Was ist dran an den Betrugsvorwürfen? Viel weniger als einst behauptet, sagt die Bremer Fachfrau. Aber sie registriert mehr„Hinweise“ als zuvor

Bremen taz ■ Es war eine Kampagne der besonderen Art: Bis zu zehn Prozent aller ALG-II-Empfänger würden betrügen, hieß es vor Wochen von Exarbeitsminister Clement, er verglich gar Menschen mit „Parasiten“.

„Ich hab mich richtig erschrocken“, sagt Edeltraud Aigner dazu später. Im Gegensatz zu dem Minister weiß Edeltraud Aigner, wovon sie spricht, wenn es um Missbrauch von ALG-II-Leistungen geht: Sie arbeitet bei der Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (Bagis), als Teamleiterin in der Außenstelle Obervieland. Und sie ist Teilnehmerin einer bundesweiten Arbeitsgruppe zum Thema „Leistungsmissbrauch“, die just dann in Nürnberg tagte, als Minister Clement zu seinen Ausfälligkeiten gegen seine Kunden ansetzte. Was ist denn jetzt dran an den ALG-II-Betrugsvorwürfen, Frau Aigner?

„Es liegt mehr Leistungsbetrug vor als früher“, sagt die Fachfrau, aber sie und ihr Chef, der stellvertretende Bagis-Leiter Eckhard Lange betonen, dass es keine Zahlen gebe und dass von zehn Prozent keine Rede sein könne. Die gefühlte Zahl von Menschen, die wissentlich zu Unrecht ALG-II-Leistungen kassierten, sei viel, viel kleiner. Lange: „Egal, wie die Prozentzahl aussieht: Es ist die absolute Minderheit der ALG-II-Bezieher.“

Dass Aigner und ihre Kollegen mehr Fälle von Betrug aufdecken, liegt daran, dass es „mehr Hinweise gibt als früher“. Man könnte auch sagen, es wird mehr denunziert. Dieses Wort benutzen Aigner und Lange nicht, sie sprechen von „Hinweisen“ oder „Mitteilungen“. Die bekäme man nun ein- bis zweimal die Woche statt wie früher ein, zweimal im Monat, sagt Aigner, „als wäre da eine Hemmschwelle weggefallen“. Auch neu: „Die Leute outen sich“, nennen Namen und Adresse.

Bei Hausbesuchen auf solche Meldungen hin stellen Aigner und ihre Kollegen „meistens fest, dass Leistungsbetrug vorliegt“. Dass ein festliches Schild „Hölzerne Hochzeit“ über der Tür hängt, wenn die Bagis-Mitarbeiter vorbeikommen, um die angegebene Trennung des Paares auf ihre Richtigkeit zu prüfen, sei einmalig, erzählt Aigner, und geschah in diesem Fall Kollegen in einem anderen Stadtteil. Doch dass Paare angeben, lediglich als WG oder aber getrennt voneinander zu leben, passiere öfter. „Es gibt Kriterien für eine eheähnliche Gemeinschaft“, erklärt Bagis-Mann Lange, ein gemeinsames Bett sei da noch lange nicht genug, um Betrug nachzuweisen. Gemeinsame Kinder, gemeinsame Konten, gemeinsame Umzüge sind Faktoren, „und all diese Anhaltspunkte müssen gerichtlich überprüfbar sein“, so Lange.

Weitere Möglichkeiten, zu Unrecht Arbeitslosgengeld II zu beziehen, sind alle Arten nicht angegebener Einkünfte, aus Arbeit, aus Renten, aus Zinsen oder aus Unterhaltsansprüchen. Hier hilft der Datenabgleich – der Bagis stehe demnächst jede Menge Papier ins Haus, sagt Lange. In einigen Wochen will man Ergebnisse haben.

Hausbesuche soll künftig ein eigens eingerichteter Außendienst übernehmen und schon durch seine bloße Existenz abschrecken – ob er zentral in der Bagis-Hauptverwaltung angesiedelt wird oder in den Stadtteilen, ist noch offen.

Viel könnte auch schon aufgeklärt werden, wenn es direkt bei Abgabe eines ALG-II-Antrags ein Gespräch gäbe und nicht erst später, sagt Edeltraud Aigner. Die Menschen geben derzeit ihre Anträge in der Eingangszone der Bagis ab, bearbeitet wird das 16-Seiten-Papier dann in der Leistungsabteilung. „Ein bisschen ohne Menschen“, beschreibt Aigner das Abgabe-Procedere und wünscht es sich anders.

Rund 41.000 Bedarfsgemeinschaften gibt es in Bremen, gerechnet hatte man mit 36.000. „Noch keine befriedigende Antwort“ gebe es auf dieses Mehr an ALG-II-Beziehern, sagt Eckhard Lange. Es gebe aber keine sprunghaft gestiegene Zahl junger Menschen, die auszögen, um ALG II zu bekommen. Viele Menschen hätten zusätzlich zu ihrem Verdienst Anspruch auf aufstockende Leistungen, das sei nicht vorhersehbar gewesen, so Lange.

Wie ist die Missbrauchskampagne aus dem Hause Clement in Bremen wahrgenommen worden? Von ALG-II-Empfängern habe sie wenig Reaktionen dazu bekommen, sagt Edeltraud Aigner: „Das hat uns im Amt mehr getroffen als unsere Kunden.“

Susanne Gieffers