Streit um den neuen Internetstandard: Alles Apps oder wildes Web?

Im Netz kann jeder mit ein paar Klicks selber Inhalte publizieren. Warum setzt dann in der mobilen Welt die Rückkehr in geschlossene Programmwelten ein?

Unabhängig kommunizieren. Mit HTML5 können eigene Anwendungen erstellt werden. Bild: dpa

Das Web ist, was die Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung anbetrifft, eine erstaunliche Erfolgsgeschichte: Musste man vor wenigen Jahren noch ein Experte sein, wenn man der Menschheit seine Haltung gedruckt oder digital präsentieren wollte, publiziert man heute dank einfach zu bedienender Blogsysteme, frei nutzbarer Videoseiten oder (wenn es noch schneller gehen muss) viel gelesener Kurznachrichtendienste in Sekunden oder höchstens Minuten. Die Äußerung an sich ist so einfach, dass das Auffinden der Botschaft im Nachrichtenstrom - also das Erregen von Aufmerksamkeit bei anderen Menschen - mittlerweile zum schwierigeren Teil geworden ist.

Hinzu kommt, dass das Web breite Möglichkeiten für Innovationen bot und bietet. Die einheitliche Plattform und der Zugang per Browser, den wirklich jeder versteht, erlauben ein rasantes Tempo neuester Technikentwicklungen, die dann sofort einer breiten Masse von Nutzern zur Verfügung steht. Nicht einmal große, teure Rechenzentren braucht ein Programmierer mit Ideen heutzutage mehr: Er kann sich virtuelle Hochleistungsserver von so genannten Cloud-Computing-Anbietern vom heimischen PC aus zusammenklicken und muss sie dann nur so lange bezahlen, wie er sie wirklich einsetzt.

Merkwürdigerweise hat sich diese wunderbar wilde Web-Welt bislang nicht 1:1 auf mobile Plattformen übertragen. Zwar bieten moderne Smartphones wie Googles Android-Handys oder Apples iPhone mittlerweile hervorragende Browser an, die das Web so darstellen, wie auf dem Schreibtisch-PC. Da das aber aufgrund des kleinen Bildschirms nur durchschnittlich komfortabel zu sein scheint, herrscht seit mittlerweile zwei Jahren ein gewaltiger Boom bei so genannten Apps - Miniprogrammen für Smartphones, die es für nahezu jede erdenkliche Aufgabe gibt. Im Gegensatz zum freien Web, für das wie erwähnt mit einfachsten Mitteln Inhalte erstellt werden können, steckt in diesen ein ausführbarer Code, der mit für Otto-Normal-Nutzer kaum verständlichen Entwicklungsumgebungen programmiert wurde. Kann man im Web mit etwas Hintergrundwissen noch einigermaßen verstehen, wie was auf den Bildschirm gelangt, werden Apps wieder zur "Blackbox", zur Geheimwissenschaft. Außerdem geht Kompatibilität verloren: Während das Web überall gleich funktioniert, müssen Apps auf jede Plattform angepasst sein.

Technisch gesehen gibt es aber eigentlich keinen Grund dafür, dass sich Programmierer an Apple, Android und Co. binden müssten. Mit HTML5, dem letzten Stand in Sachen Web-Entwicklung, lassen sich mittlerweile vollwertige Anwendungen schreiben - Büroprogramme oder Spiele sind genauso wenig ein Problem wie rasante 3D-Grafiken oder Videos. Tatsächlich wirbt beispielsweise Apple für seine besonders breite Unterstützung von HTML5 auf dem iPhone - Steve Jobs betonte erst kürzlich auf einer Entwicklerkonferenz, dass Apple "zwei Plattformen vollständig" unterstütze, eben den eigenen, "kuratierten" App Store mit all seinen Regeln und das offene, unzensierte System, das mit HTML5 möglich ist. Web-Anwendungen lassen sich zudem genau wie "richtige" Apps auf dem Home-Bildschirm des Smartphones platzieren, auch optisch müssen sie sich von diesen nicht mehr stark unterscheiden. Spaßigerweise ist es ausgerechnet die Porno-Industrie, die diese Lücke im sonst so keuschen Apple-Universum nutzt: Diverse Hardcore-Seiten sind im auf das iPhone angepassten HTML5-Format verfügbar.

Trotzdem locken die App-Welten Programmierer und Inhaltelieferanten weiter an - und dies wird auch noch länger so bleiben. Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe. So bieten Google und Apple für auf ihre jeweilige Plattform abgestimmte Apps gut funktionierende Verkaufsplattformen an, die direkten Zugriff auf den Geldbeutel (vulgo: die Kreditkartendaten) des Nutzers bieten. Der HTML5-Welt fehlt diese einheitliche Technik noch, schlimmstenfalls muss man für jede neue Anwendung einen eigenen Abrechnungsaccount anlegen. Medienkonzerne haben zudem in der App-Welt das Gefühl, wieder etwas von der Kontrolle zurück zu erhalten, die ihnen im Web, wo sie mit ganz neuen, freien Konkurrenten zu kämpfen haben, abhanden kam. Aber selbst so mancher Verleger fragt sich mittlerweile, ob Apps die Antwort auf diese Probleme sind: Gerade Apple agiert nämlich längst als inhaltlicher Kontrolleur, mag weder weibliche Brüste noch politische Schmähungen besonders gerne.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.