Debatte Italien und die Krise: Stabile Depression

Italiens Haushaltsdisziplin ist entgegen dem Klischee groß. Die Familie ersetzt nach wie vor den Sozialstaat. Und die Wirtschaft dümpelt vor sich hin.

Anderswo mag die Krise des Euro, mögen Rettungspakete für die Gemeinschaftswährung für heftige Debatten sorgen - in Italien nicht. Anderswo auch, vorneweg in Deutschland, mag man ganz selbstverständlich Italien zu jenen Sündern rechnen, die die Verantwortung dafür tragen, dass das schöne neue, supranationale Geld so viel von seinem Glanz verloren hat. Italien dagegen ist sich, quer durch alle Lager, keiner Schuld bewusst.

Stattdessen macht das Land weiter wie in den letzten zwei Jahren: Es segelt gleichsam im Windschatten der Weltwirtschaftskrise - und jetzt auch der Währungskrise. Das Minuswachstum im Jahr 2009 zum Beispiel, ja und? "Das heißt doch nur, dass wir wieder bei der Wirtschaftsleistung von 2006 sind", bemerkte Finanzminister Giulio Tremonti. Und legt nach: Ausgerechnet Italien werde "stärker als die anderen aus der Krise hervorgehen". Gewiss, gerade wurde ein Sparpaket von 24 Milliarden Euro verabschiedet, doch "wir werden den Bürgern nicht in die Tasche greifen", versichert Regierungschef Berlusconi.

In Deutschland werden solche Sprüche gern verbucht als die übliche Berlusconi-Aufschneiderei oder, noch tiefer verwurzelt, als jahrzehntelang geübte Unseriosität beim Haushalten.

ist Italien-Korrespondent der taz und lebt in Rom. Früher kam ihm die regelmäßige Lira-Abwertung selbst sehr zupass.

Doch was, wenn sie einen wahren Kern enthielten? Natürlich sitzt Italien mit knapp 120 Prozent des BIPs auf dem höchsten Schuldenberg der EU. Doch hinter dieser Zahl verbirgt sich weder unsolides Wirtschaften der letzten Jahre noch eine besonders dramatische Entwicklung in der gegenwärtigen Krise. Vor dem Big Bang des Finanzmarkt-Crashs lag die jährliche Neuverschuldung bei 2,7 Prozent - und danach, im Jahr 2009, bei 5,3 Prozent. Das ist nicht bloß ein Wert wie in Deutschland - der Anstieg der Neuverschuldung vom einen Jahr aufs andere fiel sogar deutlich geringer aus als in der Bundesrepublik.

Denn keines der Dramen, die Irland, Spanien, Griechenland, Portugal heimsuchten, auch keines der Dramen, die Deutschland oder Großbritannien trafen, spielte sich in Italien ab. Weder brach - wie im Fall etwa Spaniens - eine Konjunktur zusammen, die rein auf der Bauindustrie basierte, noch platzte eine Immobilienblase oder gerieten Banken in milliardenteure Schieflagen, noch schnellte die Arbeitslosigkeit in astronomische Höhen.

Im Windschatten der Wirtschaftskrise: Das ist eben keine pure propagandistische Erfindung der Berlusconi-Schönredner. Umgekehrt gilt aber auch: Jene fast schon beneidenswerte Lage erreichte das Land, weil es sich vorher über Jahre hinweg im Abseits des Aufschwungs befunden hatte. Irland machte als "keltischer Tiger" Furore, zog Investitionen aus aller Welt an. Spanien durfte sich als Land im Aufbruch rühmen lassen, mit Wachstumsraten bei 5 Prozent jährlich, und Anfang 2008 verkündete Ministerpräsident Zapatero keck, Spanien habe Italien beim erwirtschafteten Pro-Kopf-Einkommen überholt.

Italiens Depression stieg darüber noch ein wenig mehr. Seit Mitte der Neunzigerjahre hatte es nur noch zu Wachstumsraten von schmalen 0,8 Prozent pro Jahr gereicht - das war die magere Hälfte des EU-Durchschnitts. Land im declino, im Niedergang: So lautete der trübe Befund der Wirtschaftswissenschaftler, der Medien, der Politik. So auch lautete der trübe Befund der meisten Bürger, die mit stagnierenden, ja oft sinkenden Einkommen haushalten mussten.

Ebendies gereicht den Tristesse-erprobten Italienern jetzt allerdings nicht bloß psychologisch zum Vorteil, mussten sie doch erst gar nicht groß auf den Pessimismusmodus umswitchen, als dann die Krise kam. Auch materiell ist Italien dank vergangener Nachteile heute scheinbar im Vorteil. Die Arbeitslosensicherung? Für wenige fällt sie sehr bescheiden aus, für die meisten gibt es gar nichts. Familienhilfen? Praktisch inexistent. Renten? Schon in den Neunzigerjahren nach unten reformiert. Italiens wahres soziales Netz ist wie eh und je die Familie - die sich jetzt nicht nur erneut als ungeheuer krisenfest erweist und vor allem den Staat nichts kostet, ihn im Gegenteil wunderbar entlastet.

So wird Italien zum Beispiel für die Entwicklungen, die jetzt der gesamten Eurozone drohen: Es war jene strikte Haushaltsdisziplin, die Italien um der Mitgliedschaft beim Euro willen Jahr für Jahr übte, mit rigorosem Sparen, die die jahrelange Phase des "declino" einleitete. Die damals neu gewonnene Solidität der Fiskalpolitik hieß eben auch: Verzicht auf Prosperität in der wirtschaftlichen Entwicklung.

1997 kam zudem dem Land jenes Ventil abhanden, mit dem es immer wieder seine Wettbewerbsfähigkeit gesteigert, so Exporte und Wachstum gepusht hatte: die periodischen Lira-Abwertungen. In der Eurozone war Schluss mit diesem Spiel - zugleich aber fügte sich Italien brav und insgesamt recht diszipliniert in die haushaltspolitischen Maastricht-Diktate. Der Euro wurde zur Zwangsjacke für ein Italien, das dennoch um keinen Preis auf die Gemeinschaftswährung verzichten kann. Denn anderenfalls - das war und ist in Rom allen klar - würden die Zinsen für die Staatsschulden explodieren. Der Euro als währungspolitische Zwangsjacke, zugleich aber auch als haushaltspolitischer Segen: Dies ist Italiens Dilemma seit 1997.

Jetzt aber, meint Finanzminister Tremonti, stehe Italien endlich wieder "besser da" als der große Rest Europas. Denn wie sonst nur noch Deutschland verfüge es über einen harten industriellen Kern, habe es von der Mode über Möbel oder Feinmechanik bis hin zu Lebensmitteln reichlich Dinge aus dem Reich der "Realwirtschaft" anzubieten, wenn der Aufschwung wieder in Fahrt komme. Italien hat in der Tat viel mehr Substanz als Griechenland oder Spanien - und dies zeigte sich auch schon lange vor der Krise. Nie hatte das Land nennenswerte Leistungsbilanzdefizite zu verzeichnen: da es eben, anders als andere, nicht auf Pump vom Ausland lebte. Doch als wirtschaftspolitische Strategie taugt der neue Stolz auf die alten industriellen Kerne recht wenig: Nicht einmal in kleinen Ansätzen nämlich zeichnet sich ab, wie das Land seines Dilemmas mit dem Euro in Zukunft endlich Herr werden will.

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Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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