Architekt steigt Bahn aufs Dach

Der Architekt von Gerkan klagt gegen die Bahn. Der von ihm entworfene Hauptbahnhof hat statt einer Gewölbedecke im Untergeschoss ein Flachdach bekommen. Morgen entscheidet Landgericht

VON TINA HÜTTL

Das „Widerlichste vom Widerlichen“ ist eine hellgraue, gleichmäßig gelöcherte Flachdecke, die – zugegebenermaßen – nicht gerade Aufsehen erregend ist. Über 450 Meter Länge spannt sie sich in den Untergeschossen des neuen Hauptbahnhofes, den der erboste Erbauer Meinhard von Gerkan wohl am liebsten überhaupt nicht mehr betreten würde. Deutschlands Stararchitekt hatte sich schon durch eine kathedralengleiche Gewölbehalle wandeln sehen. Stattdessen schlägt ihn dort nun ein „ungestalteter, ungegliederter Raum“ nieder, wie er sich bitter beklagt.

Selten hat ein Architekt so deutliche Worte für die Ausführung eines seiner Bauwerke gefunden, selten hat einer wegen Verletzung des Urheberrechts eine Klage gewagt. Im Prozess um den künftigen Hauptbahnhof, den von Gerkan vor dem Landgericht Berlin gegen die Deutschen Bahn AG (DB) austrägt, entspricht eben nichts der Regel. Mit umso größerer Spannung darf daher morgen die Urteilsverkündigung der 16. Zivilkammer erwartet werden. Denn ein Kompromiss der beiden hoffnungslos zerstrittenen Parteien scheint in weiter Ferne.

Die Atmosphäre, die die Gewölbekonstruktion in den beiden unteren, publikumswirksamen Bahnsteigen erschaffen sollte, schwebte den Architekten von Gerkan und seinem Partner Jürgen Hillmer schon deutlich vor: Dank gewölbten Deckenelementen aus silbrigen Alulamellen, die sich in zwölf Meter Höhe um schlanke Säulen gruppieren, sollten sich hastende Bahnhofsgäste wie Besucher einer Kathedrale fühlen. Doch der DB fehlte es offensichtlich an Verständnis für solch übersinnliche Anklänge – sie montierte kurzerhand eine Flachdecke, die von einem anderen Berliner Architektenbüro entworfen wurde. Von Gerkan und sein Partner sahen sich dadurch in ihrem Urheberrecht verletzt – und zogen vor das Landgericht Berlin.

Kampf der Goliaths

Bei der Anhörung Mitte Oktober begründete die Bahn ihre Änderung mit „Zeit- und Kostenersparnis“. Von Seiten der Architekten jedoch pochte man darauf, die Entstellung am Werk zurückzunehmen, da sie gemäß des Urheberrechts „die geistigen oder persönlichen Interessen am Werk“ gefährde. Die wichtigste Rechtsfrage, über die der Vorsitzende Richter Peter Scholz entscheiden muss, lautet denn auch: Hat die DB von Gerkans Entwurf in diesem umstrittenen Detail genehmigt? „Ja“, sagt der Kläger. „Nicht bindend“ dagegen Ernst Wilhelm, der Anwalt der Gegenseite. Bisher ist also alles offen, eine Berufung zum Kammergericht gilt aber als wahrscheinlich.

Die Begründung der Bahn, die jetzige Flachdecke sei billiger und schneller zu bauen gewesen, bezweifelt von Gerkan. Nach eigenen Angaben veranschlagte die DB 7,4 Millionen Euro als Limit für den Deckenbau. Die eingeholten Angebote für die Gewölbekonstruktion hätten bei der Ausschreibung alle weit darüber gelegen, hieß es bei der Bahn. „Meine Lösung, die Decke doch noch im Kostenrahmen zu realisieren, wurde jedoch abgelehnt“, beschwert sich von Gerkan. Tatsächlich kostete auch der Alternativentwurf 8 Millionen Euro, wie das beauftragte Architektenbüro auf seiner Homepage verlauten ließ. Die Information ist mittlerweile allerdings wieder von der Internetseite gelöscht – und wegen des laufenden Verfahrens äußert sich der stellvertretende Konzernsprecher der Bahn, Heiner von der Laden, zu der angeblichen Kostenersparnis nicht.

Verständlich, dass von Gerkan den Streit persönlich nimmt. „Anders als emotional kann ich mir die Motive von Herrn Mehdorn für die Umbauten nicht erklären“, sagte er der taz. Die Decke ist bei weitem nicht der einzige Zankapfel zwischen den beiden schon betagteren Herren – auch wenn nur sie Gegenstand im Prozess ist: Zuvor hatte Mehdorn bereits die äußere Glashalle von 430 Metern auf 321 Meter verkürzt. Auch hier argumentierte die Bahn mit einer Kostenersparnis. Allerdings waren die für die volle Länge erforderlichen 9.117 Scheiben, die wegen ihrer speziellen Wölbung handgefertigt wurden, bereits komplett gefertigt. Die Überzähligen lagern nun auf einem Abstellplatz, die Kostenersparnis tendiert gegen null.

So ist es wohl auch tatsächlich ein persönlicher Kampf zwischen „Goliath und Goliath“ wie die Süddeutsche Zeitung im Oktober schrieb. Sich gegenüber stehen das größte Architektenbüro und der größte Bauherr in Deutschland: Von Gerkan repräsentiert das erfolgreiche Hamburger Büro GMP (Gerkan, Marg und Partner), das in mehr als 40 Jahren über 200 Bauwerke errichtet hat, darunter etwa das Tempodrom und das Porschezentrum in Leipzig. Doch der 71-jährige von Gerkan betont stets: „Im Prozess geht es mir nicht um verletzte Eitelkeit. Das habe ich nicht mehr nötig.“ Ein Bahnhof sei etwas anderes als ein Verwaltungsgebäude, argumentiert er. Schließlich gilt der Hauptbahnhof als Aushängeschild der Stadt.

In der Tat ist dieser Bahnhof nicht irgendein Projekt. Seit 1993 wird er geplant, rund 700 Millionen Euro kostet der Bau voraussichtlich. Er wird der größte Kreuzungsbahnhof Europas, mit vier Fernbahngleisen an der oberirdischen Ost-West-Achse und acht Gleisen für die unterirdische Nord-Süd-Verbindung. Die ganze Welt werde Berlin beneiden, sagte Mehdorn einmal über ihn. Doch er fügte auch hinzu: „Ein Bahnhof ist kein Monument, sondern ein Zweckbau.“

Was auch immer morgen entschieden wird: Für die Baukultur in Deutschland wird der Prozess als Präzedenzfall gesehen. Denn es werden nicht nur Fragen der Ästhetik berührt. Auch die Rechtsfrage des komplizierten Architekten-Urheberrechts steht nur scheinbar im Mittelpunkt. Verhandelt wird vielmehr – darüber sind sich die Feuilletonisten einig –, ob sich Deutschland herausragende Architektur noch leisten will, oder ob es sich lieber vor aller Welt blamiert. Jörn-Peter Schmidt-Thomsen, Präsident der Berliner Architektenkammer, ist jedenfalls heilfroh, dass endlich ein prominenter Kollege den Urheberrechtsprozess wagt: „In diesen für uns äußerst schwierigen Zeiten fühlen sich die Auftraggeber als Herren des Geschehens und setzen sich über uns Architekten häufig hinweg.“ Auch er sieht das „hohe Qualitätsniveau des Bahnhofs“ durch die Flachdecke „empfindlich gestört“. Für den Fall von Gerkan versus DB befürchtet er jedoch: „In der Regel zieht der Architekt den Kürzeren vor Gericht.“

Fest steht jedenfalls schon jetzt: Die Bahn will an der Decke festhalten. Sie fühlt sich mit ihrem gläsernen Hauptbahnhof samt seinen beiden Bügelbauten alles andere als blamiert. Von Gerkans Forderung, nachträglich umzubauen, erteilte sie vor Gericht eine eindeutige Absage: Dies würde den gesamten Bahnbetrieb in Deutschland auf zwei Jahre beeinträchtigen, so Bahn-Vertreter bei der Anhörung. Auch die Umbaukosten bezeichnete der DB-Anwalt als „exorbitant“.

Doch schon hinsichtlich der Streitsumme liegen Architekt und Bauherr im Clinch. Für von Gerkan liegt sie bei 500.000 Euro, die Bahn veranschlagte sie auf 20 Millionen Euro. „Zur Abschreckung“, wie von Gerkan meint, denn die Gerichtskosten, die sich danach bemessen, trägt bekanntlich der Verlierer.