Der Bildungsstreik der Schüler: Das fünfte Rad am Wagen

Nicht nur die Studenten, auch die deutschen Schüler protestieren gegen das Bildungssystem. Ihre Forderung nach Änderungen in den Ländern bleibt jedoch ungehört.

Die Bildungsproteste gingen von den Schülern aus. Schon am 2008 protestierten sie in Niedersachsen. Bild: dpa

Der Bildungsstreik wird in Deutschland als Studentenstreik wahr genommen. Was nicht stimmt. Denn auch die Schüler fordern Änderungen im Schulsystem. Die Proteste wurden schon 2008 und mit dem bundesweiten Schulstreik im Juni 2009 von Schülern initiiert. Auch wenn die Studenten mehr erhört werden, auch die Schülerproteste auch wichtig . Zur Plenartagung der Kultusministerkonferenz (KMK) am 10. Dezember 2009 sind die Kultusminister nach Bonn geladen. Was die Hochschulrektorenkonferenz für die Studenten am Ende November war, ist nun die KMK das bedeutende Treffen für die Schüler.

Schüler sind in der bisherigen Berichtserstattung über den Bildungsstreik vernachlässigt worden, weil sie im Gegensatz zu den Studenten weniger gut vernetzt und keine einheitlichen konkreten Forderungen formulieren können. Anders als die Studenten, die gegen die Bologna-Reform protestieren, haben die Schüler kein klares Feindbild. Während NRW über die Verkürzung der Schulzeit debattiert, spaltet die Stadtteilschule die Hamburger Elternschaft. Die Schüler hoffen, dass ihre Proteste und Forderungen beim Ministertreffen der KMK ernst genommen werden.

Die meisten Landesschülervertretungen unterstützen die Forderungen des Bildungsstreiks, wie auch die Landesschülervertretung NRW. Dagegen nimmt die Bundesschülerkonferenz (BSK), die ständige Konferenz der Landesschülervertretungen, nicht an den Bildungsstreiks teil. „Die BSK denkt, dass konstruktive Gespräche mit den Entscheidungsträgern mehr bringen als bloße Parolen.“ so Benjamin Frank Hilbert, Vorsitzender der Bundesschülerkonferenz. Er habe das Gefühl, dass der Bildungsstreik eine Ansammlung von Studenten ist und die Schülerinnen und Schüler benutzt werden, um die Demonstrationen größer wirken zu lassen. Außerdem findet er, dass Schülerinnen und Schüler beim Bildungsstreik das fünfte Rad am Wagen sind, da es nur um die Hochschulpolitik geht.

Martin Schneider, Vorstandsmitglied des Bezirksschülerrats aus NRW, ist da anderer Meinung: Er fordert eindeutig mehr Aufmerksamkeit für die Probleme der Schüler, die mit den Reformen nach der Pisa-Studie 2001 angegangen wurden. Er kritisiert, dass die Kultusministerin Barbara Sommer den Schülern bisher zu wenig Gehör verschenkt hat.

Unter dem Motto „KultusministerInnen nachsitzen!“ haben sich Schüler, Studenten, Auszubildene, Erwerbslose aus den Erwerbsloseninitiativen und Arbeiter und Angestellte aus den Gewerkschaften zusammen geschlossen. Sie fordern bessere Lehr- und Lernbedingungen, öffentliche Finanzierung der Bildungssysteme – ohne Einfluss der Wirtschaft und die Abschaffung sämtlicher Bildungsgebühren.

Der Föderalismus im Bildungswesen macht es den Schülern schwerer, geschlossen in der Öffentlichkeit mit ihren Forderungen aufzutreten. Denn jedes einzelne Bundesland hat ein anderes Schulsystem, das anders reformiert wurde.

Im schülerreichsten Bundesland Nordrhein Westfalen sind die größten Probleme beim sogenannten G8 zu finden. Wie in vielen anderen Bundesländern, wird die Schulzeit am Gymnasium von neun auf acht Jahre verkürzt, das sogenannte G8. „Denn beim Abitur nach acht Jahren gibt es hier keine Entzerrung des Lehrplans, sondern der ganze Unterrichtsstoff von neun Jahren wird auf acht Jahre zusammengefasst.“, erklärt Martin Schneider.

G8 ist nicht nur in NRW ein Problem - auch Schüler anderer Bundesländer bezweifeln die Sinnhaftigkeit der verkürzten Gymnasialzeit. Zum einen werden den Bildungsministerien Sparmaßnahmen am Bildungssystem vorgeworfen, da ein Jahr weniger Schule dem Land weniger kostet, und die Reform nur als Aktionismus auf die Pisa-Ergebnisse gesehen wird, und zum anderen beschweren sich die Schüler über den auf ihnen lastenden Leistungsdruck. Sie sollen möglichst schnell und möglichst effizient arbeiten und zum Abschluss kommen, wobei kaum Zeit mehr für die individuelle Freizeitgestaltung bleibt. Dennoch gibt es auch viele G8-Befürworter, die eine Verkürzung der Schulzeit als internationale Anpassung sehen.

Ein weiteres Problem der Übergangszeit entsteht, wenn 2013 doppelt so viele Schüler die Schule abschließen, die dann sowohl auf dem Studien- als auch Arbeitsmarkt konkurrieren. Nicht nur ein Problem in NRW, da die Abiturienten sich bundesweit bewerben.

In Nordrhein-Westfalen kritisieren die Schüler die ist die Einführung der Kopfnoten auf Zeugnissen. Die Lehrer bewerten Leistungsbereitschaft, die Zuverlässigkeit und das Sozialverhalten der Schüler. Die Kopfnoten gehören abgeschafft, finden Schüler wie Martin Schneider, weil der Lehrer damit unliebsame Schüler zusätzlich unter Druck setzen kann.

Die neuen Regelungen in den Bildungssystemen sind aus dem sogenannten „Pisa-Schock“ hervorgegangen. Vor acht Jahren schnitten deutsche Schüler 2001 im OECD-Vergleich unterdurchschnittlich ab. Daraufhin sah sich die KMK gezwungen zu handeln. Verschiedene Reformen wurden in den einzelnen Bundesländern umgesetzt. Vor allem die gymnasiale Oberstufe war Gegenstand der Umstrukturierung. Die Schulen mussten innerhalb weniger Jahre alles umsetzen, ohne die ausreichenden Kapazitäten zu besitzen. So wurde zum Beispiel in Niedersachsen die Orientierungsstufe, die Schulform zwischen der Grundschule und weiterführenden Schule, abgeschafft und Räume und Lehrer der Orientierungsstufe mussten neu verteilt werden.

Nach Pisa wurde in vielen Bundesländern das Zentralabitur eingeführt, die Schulabschlüsse besser vergleichen zu können, doch es bleiben viele Unterschiede: Jedes Land hat sein eigenes Zentralabi und definiert „zentral“ anders.

In Niedersachsen sind die inhaltlichen Anforderungen aller Fächer zentral vorgegeben, doch die Abiturklausuren werden von den Lehrern der eigenen Schule korrigiert. Im Gegensatz dazu werden sie in Hamburg von Lehrern verschiedener Schulen unabhängig voneinander korrigiert. In Berlin werden nur manche Fächer, wie Mathematik, Deutsch und Englisch zentral geprüft. Außerdem variieren auch die Pflichtkurse. Können in einem Bundesland Fächer, wie das oft verhasste Mathematik, „abgewählt“ werden, so bleibt Mathe in Baden-Württemberg bis zum Abitur Pflichtfach.

Die Schüler in der ganzen Bundesrepublik müssen die Konsequenzen der Bildungsreformen anno Pisa ertragen, leider werden sie unter dem Aufschrei der Studenten kaum wahr genommen. Ob nun die Proteste zur KMK in Bonn erhört werden, bleibt zu hoffen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.