Klimaschutz in China: Neuer Nabel der Welt

Peking würde gern zum Zentrum der Debatten über die Zukunft der Welt. Die Diskussion kann auch dem Land nur gut tun.

Smog in Peking: Auf mehreren Konferenzen zugleich grübeln Experten über die Tücken des internationalen Finanzsystems und über die Folgen der Umweltverschmutzung. Bild: dpa

PEKING taz "Ich brauche erst einmal einen starken Kaffee", sagt Amartya Sen und lässt sich ins rote Sofa der Lobby-Bar im Pekinger Lake View-Hotel fallen. Bis morgens um zwei hat der 76jährige indische Wirtschaftsprofessor an einem Vortrag gefeilt, um sechs ist er wieder aufgestanden.

Denn die chinesische Hauptstadt ist derzeit ein wichtiger Treffpunkt für internationale Debatten über die Zukunft der Welt: Auf mehreren Konferenzen zugleich grübeln Experten über die Tücken des internationalen Finanzsystems und über die Folgen der Umweltverschmutzung.

Am Sonntag kommt US-Präsident Barack Obama nach Peking, um mit Staats- und Parteichef Hu Jintao unter anderem über den Klimawandel zu sprechen, im Dezember streiten in Kopenhagen die Regierungschefs über eine gemeinsame Strategie, der globalen Erwärmung zu begegnen. Immer stärker scheint es, als ob es die Amerikaner und die Chinesen sein werden, die den Ausgang des Kopenhagener Treffens bestimmen: Wenn sie sich nicht einigen, die Treibhausgase einzudämmen, wird ein Nachfolge-Abkommen zum Vertrag von Kyoto höchst unwahrscheinlich.

"Ich wäre sehr froh, aber auch sehr überrascht, wenn in Kopenhagen ein globales Klimaschutzabkommen unterzeichnet wird", sagt Sen. Der Kaffee ist gekommen, nun lässt er ihn stehen, weil er das Thema spannend findet. "Aber es gibt große Differenzen über die Prinzipien, nach denen eine Übereinkunft geschaffen werden soll, die für alle Länder bindend wäre."

Die Lage ist also hoffnungslos? "Man muss es halt erneut versuchen. Wir sind heute in der Situation von Gefangenen, die wissen, dass sie aus ihrer Zelle nie mehr herauskommen. Scheitert der erste Fluchtversuch, muss man den nächsten wagen."

Besorgt ist der weise Inder, der in Cambridge lehrt, nicht nur darüber, dass sich die alten Industriestaaten in Europa und Amerika auf der einen Seite und die neuen Umweltverschmutzer wie China, Indien und Brasilien nicht einigen wollen. Er fürchtet auch, dass eine andere Ländergruppe ungerecht behandelt werden könnte: "Wer vertritt die Interessen jener Länder Afrikas, die bislang das Klima noch nicht belasten, weil sie zu arm sind, aber in Zukunft auch eigene Industrien aufbauen müssen?"

China und Indien argumentieren, sie seien nicht schuld an der Erwärmung des Klimas und müssten zunächst ihre Industrien aufbauen, bevor sie sich verpflichten, die Treibhausgase auf eine Höchstgrenze zu beschränken. Sen hält diesen Einwand für "nicht falsch", die Schlussfolgerung gleichwohl.

Denn "schuld" an der Misere seien auch die Europäer und Amerikaner im engeren Sinne des Wortes nicht. "Früher wusste man ja nichts über die langfristigen Folgen von Umweltverschmutzung, die heutigen Bewohner waren noch gar nicht geboren", sagt Sen. "Wir haben von Männern wie Martin Luther King und Bischof Tutu gelernt: Ständig die Übel der Vergangenheit zu beschwören hilft nicht, eine bessere Zukunft aufzubauen. Man muss eine neue Seite aufschlagen."

Amartya Sen hat 1998 den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten. Die Entscheidung des Preiskomitees verblüffte damals viele seiner Kollegen. Der Wissenschaftler schien völlig aus dem Rahmen zu fallen: Anders als seine Vorgänger konzentrierte er sich weniger auf Modellrechnungen und Formeln als auf die Frage, wie sich Marktwirtschaft und Gerechtigkeit für die Armen vereinbaren lassen. Seine Erfahrungen hatte er nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft gesammelt, sondern auch auf den Straßen Indiens: "Ich habe demonstriert und agitiert", erinnert er sich.

Mit seiner großen Brille und dem freundlichen Lächeln wirkt er milde und verbindlich. Während seine Gesprächspartner in den Konferenzsälen Statistiken zitieren, Produktionszahlen, Klimaziele und Regierungspläne erörtern, spricht er von gerechter Verteilung und dem Schutz sozialer und individueller Freiheiten.

In seinem gerade veröffentlichten Buch "The Idea of Justice", das Anfang des nächsten Jahres auch auf Deutsch erscheint, greift Sen sein Thema aus philosophischer Perspektive wieder auf. Er stellt die Frage, wie man die ganz unterschiedlichen Ansichten in der Welt darüber, wessen Bedürfnisse "gerecht" und wessen "ungerecht" sind, was als "fair" und was als "unfair" empfunden wird, erkennen und miteinander vereinbaren kann.

Die wichtigste Voraussetzung dafür, vernünftige und gerechte Lösungen zu finden, sagt Sen, bleibe ein "öffentlicher Diskurs", bei dem die Interessen aller Seiten gehört und abgewogen werden. Sen: "Die Bürger und die Medien müssen sich dieser Frage annehmen und die Debatte vorantreiben." Das, das bedauert er, sei in China bislang "aus welchen Gründen auch immer" nicht möglich, doch an den chinesischen Universitäten werde darüber bereits viel debattiert.

Saxophon-Klänge von Kenny G durchdringen die Hotellobby. Sen muss zum nächsten Termin, sein chinesischer Betreuer drängt zum Aufbruch. Noch eine letzte Frage: "Glauben Sie, dass die Welt in Zukunft gerechter werden kann?" Blitzschnell kommt die Antwort: "Nur, wenn wir dafür kämpfen."

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