Politologe Franz Walter über die SPD: "Keine Zukunft als Volkspartei"

Vor dem Dresdner Parteitag rät Politikwissenschaftler Franz Walter der SPD zur Fortführung der Politik der Neuen Mitte und zu einem neuen Stil. Ein Bruch mit ihrer Agenda 2010 sei dagegen falsch.

Bühne frei: Hier wird der Dresdner SPD-Parteitag stattfinden. Bild: dpa

taz: Herr Walter, die SPD hat seit 1998 die Hälfte ihrer Wähler verloren. Warum?

Franz Walter: Weil sie die Hoffnungen, für die sie 1998 gewählt wurde, enttäuscht hat. Die SPD hatte versprochen, Schluss mit der sozialen Kälte unter Kohl zu machen und für mehr soziale Symmetrie zwischen Oben, Mitte und Unten zu sorgen. Doch die soziale Spreizung hat seitdem enorm zugenommen. Die SPD hat auch ihr Versprechen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen, nicht erfüllt - die Aufstiegsmöglichkeiten der eigenen Klientel sind sogar geschrumpft.

Die Gesellschaft sympathisiert mehrheitlich mit sozialdemokratischen Werten. Man ist für den Atomausstieg, für Mindestlöhne und soziale Gerechtigkeit - aber immer weniger wählen SPD. Warum?

Vorsicht! Historisch gesehen wurde soziale Gerechtigkeit bis in Sechzigerjahre eher mit der Union als mit der SPD verbunden. In der SPD redete man erst seit den Siebzigerjahren Jahren von sozialer Gerechtigkeit. Der Begriff fand sich bis dahin in keinem Programm, höchstens im Vokabular von Parteirechten, die im Verdacht standen, mit dem Kapital zu kollaborieren.

Was bedeutet soziale Gerechtigkeit denn heute?

Das ist die kniffelige Frage. Die Gesellschaft weiß immer genau, was nicht gerecht ist - aber sie hat keine positive Vorstellung davon. Außerdem sehen wir, dass die Links-rechts-Spaltung sich in dieser Frage auflöst. Früher fanden SPD und Grünen-Anhänger die Gesellschaft ungerecht, während Union- und FDP-Anhänger vollständig mit den Verhältnissen einverstanden waren. Seit drei, vier Jahren beobachten wir, dass mehr als alle anderen die Wähler der Grünen die Gesellschaft für gerecht halten - während FDP-Wähler Klage führen, dass es ungerecht zugeht.

Warum?

Weil sie die Mittelschicht für die Melkkuh der Nation halten.

Und wo steht die SPD in der Gerechtigkeitsfrage?

Sie ist zerrissen. Sie ist nicht mehr die Partei der Armen, der Arbeiter oder der Arbeitslosen. Ihre Mandatsträger und Aktivisten sind oft Aufsteiger. Sämtliche jüngere Abgeordnete sind Akademiker. Wenn nun mehr sozialer Ausgleich verlangt wird und der Hartz-IV-Satz steigen soll, wird die soziale Mitte, die die Klientel der SPD ist, dies finanzieren müssen. Das ist ein Kernproblem der SPD: Sie kann die Interessen von Marginalisierten und Mitte nicht mehr verbinden.

In den Siebzigerjahren war die Verbindung von Mitte und Unten das Erfolgsrezept der SPD. Warum heute nicht mehr?

Weil unklar ist, was Solidarität unter den Bedingungen von geringem Wachstum und Millionen Dauerarbeitslosen heißt. Solidarität ist ja nicht Mitleid oder Selbstlosigkeit. Es geht um Hilfe, die später irgendwann zurückgezahlt wird. Nach diesem Prinzip funktionieren Industriegewerkschaften. Nun gibt es aber seit 30 Jahren eine marginalisierte Unterschicht, die nicht mehr zurückzahlen kann.

Bei der Bundestagswahl haben fast vier Millionen Menschen wegen der Agenda-Politik nicht gewählt. Alle Versuche der SPD, mit der Verlängerung des ALG I oder dem Mindestlohn ihr Image aufzubessern, waren vergeblich. Muss die SPD konsequent mit der Agenda brechen?

Nein, sie muss da weitermachen, wo Kurt Beck aufgehört hat. Wir haben uns ja angewöhnt, Beck für einen tumben Provinzler zu halten. Aber Beck hat 2006 durch Kontakt mit Basis und Gewerkschaften in einem Lernprozess begriffen, dass die SPD die Agenda entschärfen, verändern muss. Diese Korrekturen waren plausibel und nachvollziehbar - damals stand die SPD in Umfragen übrigens bei 30 Prozent.

Was war dann ihr Problem?

Das Problem war nicht nur die Agenda an und für sich, sondern ebenso der Stil. Verheerend hat da Franz Müntefering gewirkt, der mit herrischen Befehlen ohne Begründung die Partei regiert hat. Mal hat er das Ende der "Reformitis" verlangt, dann jede Kritik an der Agenda gebrandmarkt. Diese autoritäre Sprunghaftigkeit hat die SPD kaputtgemacht, zumal sie die Rückkehr von der neoliberalen Staatsskepsis unter Schröder zum traditionellen Etatismus nicht einleuchtend begründen konnte.

Gemessen an der Repräsentanz ist die SPD noch immer eine Volkspartei. Rentner und Azubis, Akademiker und Arbeitslose haben sie ziemlich gleichmäßig gewählt. Ist das ein Vor- oder ein Nachteil?

Es ist für die SPD schwierig, in einer heterogenen Gesellschaft die verschiedensten Interessen nicht bloß zu bedienen, sondern zusammenzufassen. Einfach ausgedrückt: Egal, was die SPD tut - sie hat immer ein Problem. Das hat sich schon 1998 gezeigt. Damals hatte sie mit dem taktisch geschickten Slogan "Innovation und Gerechtigkeit" die Wahl gewonnen. Dieser Slogan war notwendig diffus - wenn man ihn präzisiert hätte, wären die Widersprüche sichtbar geworden. Genau das ist 1999 passiert. Die einen erwarteten, dass schwungvoll dereguliert wird, die anderen genau das Gegenteil. Kein Wunder, dass dieses Bündnis von Modernisierern und Schutzbedürftigen platzte.

Mit Lafontaines Rücktritt?

Ja, klar.

Das sozialdemokratische Versprechen, dass man die Interessen von Mittel- und Unterschicht schlagkräftig verbinden kann, ist eine Illusion?

Derzeit ja. Zu Willy Brandts Zeiten meinte Bündnis von moderner Mittel- und Unterschicht die Kombination von bürgerlichen Schichten und selbstbewusster Facharbeiterschaft. Heute bilden vor allem Transferempfänger die Unterschicht - und die haben nichts von technischer Innovation. Schröder hat dieses Dilemma 2003 handstreichartig mit der Agenda aufgelöst, indem er auf die ressourcenstarken Leistungsträger gesetzt hat.

Und jetzt?

Ich glaube, die SPD muss an dem Projekt der Neuen Mitte festhalten. Diese Neue Mitte von Bildungsaufsteigern ist ja selbst ein Produkt sozialdemokratischer Politik. Trotzdem schämt sich die SPD noch immer ein bisschen dafür, dass sie Mitte ist.

Dann wäre die Abkehr von der Agenda völlig falsch?

Ja, wobei die SPD einen Bruch braucht, nämlich beim Umgang mit Kritik. Sie hat seit elf Jahren beispiellose Niederlagen erlitten. Es gab einen Exodus von Mitgliedern, die zwei bis drei Großstädte bevölkern könnten. Die SPD-Spitze hat reagiert wie die SED unter Honecker: Wir weinen niemand eine Träne nach. Gabriel sagt heute: Es war nicht alles schlecht. Klingt auch bekannt.

Die Agenda war im Prinzip richtig, aber der Stil, mit dem sie durchgesetzt wurde, falsch?

So ungefähr.

Hermann Scheer hat die Art, wie Gabriel und Nahles in einer Kungelrunde gekürt wurden, scharf attackiert. Hat er Recht?

Ja und nein. Ja, weil es besser wäre, wenn die SPD zwischen zwei Kandidaten wählen könnte. Ja, weil diese Kritik ein Widerspruch gegen den autokratischen Führungsstil in der SPD war. Die Krise der SPD ist eine ihrer Führung. Wenn etwas schieflief, wurde die Führung ausgewechselt, das Erste, was die neue Führung verkündete, war, dass Kritik an ihr verboten ist. Die SPD-Spitze hat jahrelang ihre eigene Krise nicht in den Griff bekommen, aber stets von der Basis Disziplin eingefordert.

Und warum nein?

Weil es ein Irrtum ist, dass es die Basis jetzt schon richten wird. An der Debatte um das Hamburger Parteiprogramm haben sich nur sieben Prozent der Genossen beteiligt. Die SPD-Basis ist lethargisch, sie ist sozial verengt und besteht hauptsächlich aus Rentnern.

Wird es auf dem Dresdner Parteitag einen Aufstand geben?

Nein, dieser Partei fehlt die Kraft zur Rebellion. Auch kein gutes Zeichen.

Angela Merkel scheint die Mitte zu besetzen, die SPD kriselt, zu alledem sind schwarz-grüne Bündnisse wahrscheinlicher als rot-rot-grüne. Hat die SPD noch eine Chance, ihre Machtlosigkeit zu überwinden?

Ja, Schwarz-Gelb ist nicht so übermächtig, wie es scheint. Schwarz-Gelb hatte 2009 absolut 300.000 Wähler weniger als 2005. Auch bei der Union gibt es die Auflösung des Milieus und eine wachsende Zahl von Wechsel- und Nichtwählern. Die Probleme der SPD von heute sind die der Union von morgen.

Immerhin gibt es im bürgerlichen Lager eine funktionierende Arbeitsteilung zwischen der Protest- und Steuersenkungspartei FDP und der Volkspartei CDU/CSU, die garantiert, dass die FDP nicht zu viel Unfug anstellt. Eine solche Rollenverteilung gibt es für Rot-Rot-Grün nicht, oder?

Im Moment nicht. Die SPD will ja genau diese Arbeitsteilung nicht. Sie klammert sich noch immer an die Illusion, dass sie die große Partei der linken Mitte ist, die sie in den Siebzigerjahren war. Das ist ein Irrtum. Die SPD wird die Langzeitarbeitslosen aus Duisburg-Marxloh nicht zurückgewinnen. Dafür fehlt es ihr an überzeugendem Personal und politischen Angeboten.

Was dann?

Eben die Fortführung der Politik der Neuen Mitte. Es ist ehrenhaft, wenn die SPD nun mehr Sensibilität für Langzeitarbeitslose aufbringt, aber kein politisches Projekt. Schon gar nicht für Rot-Rot-Grün, das, wenn überhaupt, als Bündnis sehr verschiedener Partner funktionieren wird und in dem die SPD für die soziale Mitte steht.

Die SPD hat also keine keine Zukunft als Volkspartei?

Exakt. Sie muss sich vom Modell Volkspartei verabschieden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.