Montagsinterview mit Marco Wilms: "Die Gelegenheit, unser eigenes Leben zu kreieren"

Der gebürtige Lichtenberger hat in der DDR Werkzeugmacher gelernt, dann gemodelt - und jetzt einen sehr persönlichen Film über die Ostberliner Modeszene gedreht.

Marco Wilms stört nicht, dass vor seiner Hausbesetzertür Porsche parken. Bild: Bernd Hartung

taz: Herr Wilms, schön, dass Sie es geschafft haben. Wie war die Reise?

Marco Wilms: Großartig. Ich komme gerade aus Rio, wo mein Film "Ein Traum in Erdbeerfolie" auf dem Festival lief, und danach habe ich gleich noch schnell in Karlsruhe gedreht. Die viele Fliegerei ist schon ziemlich anstrengend. Ich sollte wohl mal langsam einen Gang runterschalten.

Geht das denn? Sie sind ja gerade gefragt wie nie zuvor.

Momentan nicht. Ich will mich natürlich nicht beschweren, aber jetzt geht es nach Montreal, wo mein Film im Wettbewerb läuft, danach bin ich schon in Taipeh und - halt: Zwischendrin muss ich noch zu Arte nach Straßburg.

Wie erklären Sie sich, dass dieses sehr spezielle Thema Ihres aktuellen Films, nämlich die Underground-Modebewegung in Ostberlin, die auf eine kleine Gruppe von Menschen beschränkt war, international so interessiert?

Natürlich erzählt mein Film von einer absoluten Nischenwelt. Doch es gibt heute in der globalisierten Welt ein universelles Interesse an den Geschichten und dem Lebensgefühl. Egal ob in Rio oder sonst wo - die Leute kommen zu mir und sagen: "Wir kennen das. Wir hatten eine Militärdiktatur." Oder: "Oh, ich wollte auch mal aussteigen." Es sind die gleichen Sehnsüchte. Daher ist für mich die globalisierte Auseinandersetzung mit der DDR-Ideologie viel interessanter als immer nur die aus der Perspektive Ost und West.

Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall unterscheiden sich die West- und Ost-Identitäten sehr stark. Verstehen Sie sich als Ossi oder schon als Weltbürger?

Gleich vorweg: Ich bin sehr froh, dass die Globalisierung passiert ist und ich durch die Welt fahren und international mit Firmen und Sendern zusammenarbeiten kann. Ich kenne viele Ostdeutsche, denen es genauso geht. Ehrlich gesagt, glaube ich sogar: Dadurch, dass wir Ossis so heimatlos sind - weil unser Land verschwunden ist -, sind wir geradezu prädestiniert für die Globalisierung. Man kann uns überall hinsetzen.

Und trotzdem kreisen Sie als Filmemacher immer wieder um das Thema DDR.

Der Lichtenberger: Marco Wilms, geboren 1966 in Ostberlin, verbrachte seine Kindheit in der Stasi-Hochburg Lichtenberg. Er sagt: "Eine schlimme Gegend, bis heute."

Der Werkzeugmacher: Weil er einen Volkspolizisten beleidigte, durfte Wilms kein Abitur machen, musste stattdessen in die Produktion. Den Beruf des Werkzeugmachers zu lernen, war "sehr öde" …

Das Model: … glücklicherweise wurde er jedoch in einer Kellerdisco vom staatlichen Modeinstitut als Mannequin entdeckt. Modeltyp: studentisch-intellektuell. Doch die Wende beendete seine Topmodelkarriere jäh.

Der Hausbesetzer: Die beste Zeit seines Lebens war die kurze Phase der Anarchie nach dem Mauerfall. Er besetzte Häuser und experimentierte mit Filmen, die nie fertig geschnitten wurden.

Der Regisseur: Im Regiestudium an der HFF Babelsberg lernte er, seine Filme zu beenden, und später auch, sie zu verkaufen. Ein paar der bekanntesten: "Ein Traum in Erdbeerfolie - Comrade Couture" (2009), "Tailor-Made Dreams" (2005) und "Mittendrin" (2003).

Irgendwie muss auch ich wohl diesen Heimatverlust verarbeiten. Mein Leben zerfällt jetzt fast genau in zwei Hälften: die eine in der DDR, die andere seit der Wiedervereinigung. Da kommen Dinge, die ich schon lange mit mir rumtrage, eben hoch.

Was aus Ihrer ersten Hälfte hat Sie für die zweite am meisten geprägt?

Am ehesten mein Verhältnis zu Geld. Wenn man wie ich in einer Welt aufwächst, in der Geld als Wert nicht interessant ist, prägt das. Ich fahre Fahrrad, nicht Porsche. Mir ist eine bestimmte Art von Materialismus egal - denn wenn es anders wäre, würde ich diese Register schon ziehen.

Wie sah die Welt aus, in der Sie groß geworden sind?

Ich bin in Lichtenberg, im Plattenbau aufgewachsen. Meine Eltern leben da heute noch. Ich habe eigentlich nur unangenehme Erinnerungen an diesen Ort. Es war eine ziemlich toughe Welt.

Warum?

Lichtenberg war der Bezirk der Staatssicherheit, die Zentrale des MfS nahm einen ganzen Häuserblock ein. Mir kam unser ganzes Haus vor wie eine einzige Stasizentrale. Es gab die HGL, die Hausgemeinschaftsleitung. Und wenn ich im Keller mal meinen Hammer liegen ließ, war sofort ein Zettel angeschlagen: "Hier macht ein kleiner Kapitalist Modeschmuck." Ich war ja gelernter Werkzeugmacher und habe aus Spaß im Keller Schmuck gefertigt - aber das war natürlich auch schon wieder illegal. Diese starre ideologische Weltsicht war schrecklich. Natürlich waren auch ganz viele Eltern meiner Schulkameraden bei der Stasi, weil sie sich eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes gesucht hatten.

Gelernter Werkzeugmacher - das klingt schwer nach Zwangsmaßnahme.

War es auch. Mit meiner großen Klappe bin ich als Jugendlicher ständig böse angeeckt. Da ich Klassenbester war, konnten sie mir meine Abiturkarte nicht verweigern. Aber beim erstbesten Anlass - ich glaube, ich habe irgendwas Harmloses gegen einen Volkspolizisten gesagt - wurde sie mir entzogen. Ganz offiziell, mit Bezirksschulrat und so weiter. Ich musste dann in die Produktion gehen …

liefen wenig später aber als Mannequin für das staatliche Modeinstitut über den Laufsteg.

Ja, kein Witz. Die Entdeckung war für mich der absolute Befreiungsschlag, weil ich durch die Zertifizierung als Model nicht mehr ordentlich arbeiten gehen musste. Plötzlich war ich draußen aus dem sozialistischen System, und keiner hat mich gemaßregelt.

Wie wurden Sie entdeckt: Sahen Sie so unfassbar gut aus?

So schwer kann es nicht gewesen sein, Model zu werden. Denn als mich eine Mitarbeiterin vom staatlichen Modeinstitut in einer Kellerdiskothek ansprach, trug ich ein selbst geschneidertes Torerojäckchen, so ganz kurz, mit extremen Schulterpolstern. Es war noch nicht mal fertig, da hing unter den Achseln noch die Wattefüllung raus. Ich sah bestimmt schlimm aus, hatte lange Haare, dazu eine Nickelbrille, eher der studentisch-intellektuelle Typ. Aber der war auch gefragt. Man wollte keine "friseusischen" Mannequins beim Modeinstitut der DDR.

Wie muss man sich das Leben eines Topmodels in der DDR vorstellen: Partys, Drogen, tausende Mark für einen Auftritt?

Ich bin ein-, zweimal im Jahr auf den Modenschauen der Leipziger Messe und auch mal in Moskau gelaufen und habe ein paar Fotos gemacht. Das war alles. Da habe ich für jede Show 100 Ostmark gekriegt. Davon konnte ich dann locker ein halbes Jahr leben und hatte endlos Zeit zum Zeichnen und Fotografieren. Ich verstand mich ja wie die meisten anderen Models als Künstler. Und natürlich haben wir tolle Partys gefeiert und Liaisons untereinander gehabt.

Damals bewegten Sie sich im Dunstkreis der Mode-Undergroundszene, die Sie in Ihrem aktuellen Film zeigen. Wie gut kannten Sie die Modemacher?

Ich bin fünf Jahre jünger als die meisten Protagonisten in meinem Film, und das war in dem Alter damals sehr entscheidend. Für die war ich so ein Jungspund, der ein bisschen rumgemodelt hat - für mich waren sie die Helden meiner Jugend.

In Ihrem Film sieht die DDR bunt und wild aus, mit verrückten Kleidern aus Leder, Eingeweidebeuteln der Charité und Erdbeerfolie. Nur ein Farbfleck?

Ja - aber einer, der umso mehr im gleichmacherischen Diktaturgrau leuchtete. Die alternative Modeszene war ja nicht nur attraktiv für uns, die dabei waren, sondern auch fürs Publikum. Deswegen haben sich sogar Betriebskollektivfeste um die Shows von "Chic, Charmant und Dauerhaft" gerissen. Die Modegruppe "Allerleihrauh" dagegen war radikal. Die haben nur ihr eigenes Ding gemacht. Ein Jahr lang haben sie hunderte Kleidungsstücke genäht, bizarre Bühnenkostüme, die etwa an Schildkröten und Schuppentiere erinnerten. Dann haben sie für zwei Tage im Oderberger Stadtbad und in der Gethsemanekirche eine Aufführung inszeniert, über die jeder gesprochen hat. Und dann war es vorbei.

Mit Mode hatte das ja nur vordergründig zu tun. Worum ging es wirklich?

Es ging darum, sich rauszukatapultieren aus dem sozialistischen Einheitsschritt in eine eigene Welt. Dazu gehörte: Mit welchem Auto fuhr man auf der Modenschau vor, was hat man davor gegessen, wie danach gefeiert - ein ganzer Lebensstil. Es ging nie darum, Kleider zu verkaufen und Geld zu verdienen.

Warum war gerade die Mode die perfekte Lücke, um sich auszuleben?

In der DDR war eigentlich alles, was eigenständig war, ein subversiver Akt. Unter den Deckmantel der Modenschau konnte die Stasi aber nicht richtig blicken. Ich habe bei der Filmrecherche massenhaft Fotos gefunden, wo man sich immer fragt: Was haben die da eigentlich observiert? Frauen in Unterwäsche, so aus der Hüfte geschossen. Wo ist der Feind? Ich glaube, die wussten das selbst nicht. Erich Mielke konnte nicht mal Grufties von Skinheads und Rockern unterscheiden. Im Grunde hat die Underground-Modeszene die ganze Zeit das Ende der DDR gefeiert. Aber die Stasi war heillos überfordert.

Das Ende der DDR kam ja tatsächlich sehr bald. Davor sind Sie noch abgehauen. Warum?

Irgendwann war diese Untergrundnische nicht mehr groß genug. Es war ja keinem klar, dass die DDR zusammenkrachen würde. Als ich Anfang September 89 ging, schien alles totenstarr.

Wie sind Sie geflohen?

Über Ungarn. Ich weiß noch, dass ich meine ganzen Klamotten mitgenommen habe. Es war noch sehr heiß, doch im Zug nach Budapest trug ich meine Lederjacke und meinen Wintermantel. Einfach weil sie im Osten so schwer zu besorgen gewesen waren.

Und wo haben Sie den Mauerfall erlebt?

In Westberlin. Ich kam gerade aus der Kunsthochschule raus, als auf einmal überall Trabis und Wartburgs rumfuhren. Wow! Da habe ich mich in die U-Bahn gesetzt und bin nach Hause gefahren. Über Nacht in Ostberlin zu bleiben traute ich mich aber nicht. In den Folgemonaten bin ich mit meinem alten DDR-Ausweis immer offiziell hin- und hergereist, ein fantastisches Jahr.

In Ihrem Film "Mittendrin", in dem Sie die Utopien von fünf Machern aus der unmittelbaren Nachwendezeit beschreiben, heißt es: "Die schönste Zeit im Leben ist die, wenn die alte Macht gegangen …

… und die neue noch nicht da ist." Ja, das ist eigentlich ein Zitat aus dem Film "Die Kommissarin". Da geht es um den Bürgerkrieg in Russland. Es kann sein, dass ich es abgewandelt habe. Jedenfalls hatten wir in diesem einen Jahr wirklich die Gelegenheit, unser eigenes Leben zu kreieren. Nicht nur in einer Nische, sondern überall. Da ist das Tacheles entstanden, zig Häuser sind besetzt worden - alles Projekte, die nur in einem Machtvakuum gedeihen können.

Was haben Sie gemacht?

Ehrlich gesagt - nicht viel. Ich bin viel rumgefahren, habe künstlerische Salons ausgerufen, das Haus besetzt, in dem ich heute noch wohne, gefeiert und einen Film gedreht, der nie fertig wurde. Für mich fing ja alles an nach dem Mauerfall. Ich war 23 Jahre alt, hatte einen Studienplatz, zuerst an der Kunsthochschule, dann auf der Filmhochschule. Doch irgendwann kam der große Absturz.

Mit der Wiedervereinigung?

Nein, eher schleichend. Obwohl mich die riesige Zustimmung schon schockiert hat. Ich hielt es eher so wie Christian "Flake" Lorenz, damals "Feeling B"-Ostpunk und heute Keyboarder von Rammstein, der in "Mittendrin" sagt: "Wir wollten nicht wiedervereinigt werden, wir wollten unser eigenes lustiges Land." Das sagt er heute noch, obwohl er jetzt Rockmillionär ist. Allein der Fakt, dass unser Haus, das wir besetzt und saniert haben, nun einem Hamburger Investor gehört, sagt doch alles über die Wiedervereinigung aus. Im Grunde hat die BRD unser Volkseigentum übernommen. Damit müssen wir uns arrangieren.

Oje, das klingt jetzt fast so, als trauern Sie der DDR hinterher.

Um Himmels willen! Nein! Stagnation ist das Schlimmste. Ich kann jammernde Ostdeutsche und den Erfolg der Linkspartei nicht verstehen. Mein persönliches Problem war eher: Ich war es nicht gewohnt, kommerziell zu arbeiten.

Der Westen ist für den Künstler also der eigentliche Hort der Unfreiheit?

Nein, nur muss man sich jetzt verkaufen können. Darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Ich habe Kurzfilme gedreht, die auf Festivals liefen. Statt dort mit Produzenten und Regisseuren zu quatschen, habe ich lieber gefeiert und mich mit dem Publikum unterhalten. Als es richtig eng wurde und ich Sozialhilfe beantragen musste, war mir klar: Jetzt musst du was ändern. Ich bin dann nach Thailand gefahren und habe dort meinen ersten großen Film, "Naam Djai - Der Fluss des Herzens" gedreht. Den haben zwei ZDF-Redakteure gesehen; sie boten mir Geld für ein neues Projekt. Das war "Mittendrin". Seitdem mache ich Filme und verdiene Geld damit.

Mehrere Ihrer Filme spielen in Thailand, "Tailor-Made Dreams" handelt vom Leben eines indischen Maßschneiders. Was fasziniert Sie so an Asien?

Die Dynamik. Das Leben ist rasant und radikal, wie die technologische Entwicklung. Dort wollen die Menschen unbedingt den Wettbewerb gewinnen. Wenn man aus dieser Perspektive auf unser Land schaut, kommt es einem wie ein Wunder vor, dass es uns noch so gut geht. Sich auf den Staat zu verlassen ist den Menschen dort fremd. Ich denke, wir können uns hier nicht mehr einkuscheln; je früher wir uns auf die Veränderung der Welt einstellen, desto besser.

Aber zu welchem Preis? Gerade Berlin-Mitte verändert sich rasant, denken Sie doch nur an den Hamburger Investor, der jetzt Ihr Haus besitzt!

Das ist ein Fehler der Wiedervereinigung, die nicht auf Augenhöhe stattfand. Aber grundsätzlich stört mich nicht, dass jetzt vor meiner Hausbesetzertür Porsche parken und die Leute rings um mich herum Eigentumswohnungen haben. Solange ich da auch noch Raum habe, finde ich den Mix gut. Ich wünschte mir zum Beispiel, dass Mediaspree auch ein Mix sein könnte: Hier die wilde, surreale Bar 25, daneben baut ein Investor seinen spacigen Wolkenkratzer. Warum geht nur das eine oder das andere? Das ist übrigens auch das Thema meines nächsten Filmes: Berlin als Parallel-Partyuniversum der Welt.

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