Verzerrung der Realitäten

KRISENALLTAG In Syrien tobt der Bürgerkrieg, Hunderttausende sind auf der Flucht. Und im Nachbarland Libanon? Ein Besuch in der jungen KünstlerInnenszene von Beirut

Ich habe Angst zu verbittern. Ich möchte lieber ein Vorbild sein, für eine positive Art zu denken

VON PANIZ MUSAWI NATANZI

Das tägliche Morden und die Schießereien in Syrien gehen am Libanon nicht vorbei. Es gibt einen konstanten Flüchtlingsstrom in das kleine Nachbarland, inzwischen wird die Zahl der Flüchtlinge auf eine Million geschätzt. Der Libanon ist mit ihrer Versorgung überfordert.

Während Präsident Michel Sulaiman im Januar auf einer Geberkonferenz in Kuwait um Gelder buhlte, bemühen sich NGOs und Privatpersonen, mit Sachspenden zu helfen. In Beirut erzählen syrische Taxifahrer, die erst kürzlich mit ihren Familien in den Libanon geflohen sind, von Angriffen auf Aleppo. Einige von ihnen sind verletzt. Auf den Straßen sind Kinder, die versuchen, Kaugummis und Rosen zu verkaufen, und nur Scheine annehmen – 1.000 Libanesische Pfund entsprechen rund 50 Cent.

Die unzähligen Medienberichte über die Flüchtlingsströme in den Libanon vermitteln den Eindruck, der Bürgerkrieg in Syrien bestimme auch den Alltag der LibanesInnen. Die westlichen Medien lechzen geradezu nach der Bestätigung dieser Annahme: Zahllose ExpertInnen berichten davon, dass der „Export“ des Bürgerkriegs in das Nachbarland bevorstünde. Allerdings genügt ein Blick in die von jungen Leuten geprägte Beiruter Kunstszene, um den subtilen Orientalismus der westlichen Berichterstattung zu enthüllen.

Die 20-jährige Usra el-Madhoun ist eine aufsteigende Beiruter Fotografin. Die junge Künstlerin studiert an der Lebanese American University in Beirut und begann mit 13 Jahren zu fotografieren. In den vergangenen Jahren hat sie einige Preise gewonnen, zuletzt 2012 den United Nations Youth Association Award, sie stellte in Beirut, Kuwait, Singapur und New York aus. „Ich möchte meinen Mikrokosmos festhalten“, sagt el-Madhoun. „Ich möchte andere Menschen dazu inspirieren, dies auch zu tun und so ihre Kreativität zu entdecken.“

Als Kind der Post-Bürgerkriegs-Ära war die Künstlerin 2005 alt genug, um zu verstehen, dass die Zedernrevolution unter anderem das Ergebnis verworrener und undurchsichtiger Beziehungen zwischen Syrien und Libanon war. Ihre Kunst wurde trotzdem nicht zu einem Ort der Auseinandersetzung mit Politik und Gewalt. El-Madhoun nutzt die Fotografie, um die „Negativität des Alltags in etwas Positives“ zu verwandeln. Auch wenn es um Syrien geht, so die junge Künstlerin. „Ich schaue mir nicht jede neueste Meldung aus Syrien oder von den syrischen Flüchtlingen im Libanon an. Ich habe Angst zu verbittern. Ich möchte lieber ein Vorbild sein, für eine positive Art zu denken. Ich möchte nicht in Grenzen denken, aber menschliches Dasein in den Vordergrund stellen. Ich möchte ich sein können in meiner Fotografie.“

Die Verarbeitung der Ereignisse in Syrien mit Hilfe von Kunst funktioniert auch im „Beirut Laptop Orchestra“ eher indirekt. Die 20-jährige Nour Fakhoury, die mit ihrer achtköpfigen Gruppe bereits im Libanon und in Ägypten aufgetreten ist, fühlt mit den Betroffenen in Syrien und im Libanon. Doch der Konflikt nimmt weder sie noch ihre OrchesterkollegInnen vollkommen ein. Ihre Musik, das Zusammenspiel von Violinen, Percussion und Alltagsobjekten, überlassen sie dem Zufall. Das Spiel sei eher vom musikalischen Hintergrund der Mitglieder geprägt als von emotionalen Befindlichkeiten, betont Fakhoury.

Zwar bedrücken der Bürgerkrieg in Syrien und seine Auswirkungen die Gruppe, die mit MacBooks experimentiert und improvisiert. Dennoch ist er nicht Quelle ihrer Inspiration. „Unsere Musik schwebt über dieser Welt, sie steht in keiner Relation zu Syrien“, erklärt Fakhoury. „Ich würde dennoch liebend gerne für die Syrerinnen und Syrer in ihrem Land spielen.“

Die KünstlerInnen und Studierenden in Beirut bewegt der Bürgerkrieg, aber er prägt nicht ihre Musik: „Natürlich beeinflusst irgendwie alles jeden, und jeder beeinflusst alles“, sagt Fakhourny. „Aber das heißt nicht, dass wir unaufhörlich an unsere Nachbarländer denken, wenn wir jammen.“ Solidaritätsbekundungen, betonen die Orchestermitglieder, wären rein menschlich und nicht politisch – das sei das Wichtigste. „Wenn wir jammen, vergessen wir alles um uns herum. Wir lassen uns einfach gehen.“

Die Beiruter KünstlerInnen wollen ihre Kunst teilen. Und das nicht nur mit ihren arabischen Nachbarn, sondern mit allen, die sich auf ihre Arbeit einlassen. Weswegen sollte der Bürgerkrieg in Syrien sie mehr berühren als die langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen im Sudan oder Kongo? Die KünstlerInnen gehen ihrer Arbeit nach, so wie die meisten BeiruterInnen. Es herrscht „business as usual“ im öffentlichen Raum – wie auch nach dem Anschlag auf Wissam al-Hassan, Geheimdienstchef und Vertrauten der Opposition, im Oktober 2012 in Beirut.

Die kurzsichtige Annahme, dass alle politischen Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten einen Dominoeffekt auslösen und Bürgerkriege kurzerhand exportiert würden, wie sie in westlichen Medien oft vertreten wird, erschwert den LeserInnen ein realistisches Bild der Levante. Nach dieser Darstellung ist der Nahe und Mittlere Osten ein großes Krisengebiet, eine einzige Konfliktregion. Wer glaubt, dass die Nachrichten von Schießereien und getöteten Aleviten und Sunniten im libanesischen Tripolis und von der massenhaften Zuwanderung aus Syrien in den Libanon den Alltag bestimmen, der sollte sich mit den LibanesInnen zusammensetzen und sie selbst dazu befragen. Selbst in Tripolis, der Hochburg der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Assad-Anhängern und libanesischen Sunniten, wissen die BewohnerInnen, dass der Konflikt sich auf zwei Viertel konzentriert: Bab al-Tabbaneh und Jabal Mohsen.

Das kann sich von heute auf morgen ändern oder auch nicht. Und so lange können die, die im Libanon leben, arbeiten und ihren Alltagsgeschäften nachgehen – so wie anderswo auch.