Flucht nach Deutschland: Gefesselt im offenen Käfig

Ein Schleuser brachte den Liberianer Mokini Obiri vor 13 Jahren nach Deutschland. In der erzwungenen Untätigkeit des Asylbewerberdaseins in Brandenburg schreibt der 44-Jährige Bücher und organisiert eine Konferenz über afrikanische Politik.

Vor dem späteren Präsidenten Charles Taylor, der sich zurzeit am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, flüchtete Mokini Obiri 1989 aus Liberia. Bild: AP

Seine Mutter wollte ihn nicht ziehen lassen. Aber Mokini Obiri musste weg. Weg aus Afrika. Nach England würden sie ihn bringen, für 1.800 US-Dollar. Dort wäre er in Sicherheit, dort sprächen sie seine Sprache, dort könnte er sich politisch betätigen und eines Tages zurückkehren, "als ein guter Präsident, der für sein Volk das Beste will". Darunter machte es dieser ehrgeizige junge Mann nicht. Zu dem Traum sagte seine Mutter nichts, aber Europa jagte ihr Angst ein. "Geh doch nach Kenia, da bist du auch sicher", versuchte sie ihren Sohn umzustimmen. Mokini Obiri aber bezahlte den Schleuser. Nur nach England kam er nie.

Mokini Obiri, heute 44 Jahre alt, sitzt unter einer Linde vor dem Übergangswohnheim für Asylbewerber im brandenburgischen Belzig, erzählt die Geschichte seiner Flucht und der langen, zerstörerischen Zeit danach. Er spricht langsam, leise, in wohlgesetzten englischen Worten. In Mokini Obiris Sprache bekommen die deutschen Behörden und Papiere einen zugleich ehrwürdigen wie kafkaesken Klang. "Foreign Office", Auswärtiges Amt, nennt er die Ausländerbehörde. "Permission to live", Erlaubnis zum Leben, heißt bei ihm die Aufenthaltsgenehmigung, die er nicht besitzt.

Obiris Vater stammt aus dem westafrikanischen Liberia, seine Mutter ist Nigerianerin. In Nigeria wuchs er auf. Als 1989 in Liberia der Bürgerkrieg losbrach, zog es ihn ins Land seines Vaters. "Ich habe keine Waffe in die Hand genommen, aber ich habe mich eingebracht", sagt er. In der katholischen Kirche seiner Tante predigte er. Und schrieb eines Tages einen Brief an den Warlord Charles Taylor, der später Präsident wurde und dem derzeit am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Kriegsverbrechen der Prozess gemacht wird. "Wir sollten die UN zu Hilfe rufen und das Blutvergießen stoppen", stand in dem Brief.

Eine Geliebte des Warlords - Rose hieß sie - gehörte zur Gemeinde und überbrachte den Brief. Sie verriet Taylor wohl auch, wo die Kirche steht und wo Obiri zu finden sei. Die Kirche brannte nieder, Obiri floh nach Ghana, ließ sich später nach Nigeria bringen, zu seiner Mutter. Und fühlte sich dort auch nicht sicher.

England wäre die Lösung gewesen. Das Exil, die Politik. Das Abenteuer. Obiri landete in Hamburg, auf dem Flüchtlingswohnschiff "Bibby Altona". Wurde Tellerwäscher. "Mein Glück hielt nicht lange" - eines Abends stand die Polizei in der Küche. Um nicht abgeschoben zu werden, beantragte Obiri Asyl. Wurde von Hamburg nach Brandenburg gebracht, ins Aufnahmelager Eisenhüttenstadt. Von dort kam er nach Belzig.

Seit 13 Jahren wohnt er nun im Heim, in einem kargen Doppelzimmer mit Vorhängeschlössern vor den Spinden, mit einer winzigen Küche für sechs Personen. Über den Stand seines Asylverfahrens wisse er nichts, sagt er und schweigt dann. Im Heim aber müsste er nicht mehr wohnen, er hat einen Sohn in Hamburg, den siebenjährigen Simon, hervorgegangen aus einer kurzen Affäre mit einer Afrikanerin dort. Erst viel später erfuhr Obiri, dass es Simon gibt. Er darf jetzt reisen, um sein Kind zu besuchen. Er dürfte umziehen. "Aber wenn sie ein wildes Tier im Zoo einsperren und nach Jahren das Tor öffnen, verlässt es auch nicht gleich seinen Käfig", sagt er. Mokini Obiri schaut auf die Einfahrt des Heimgeländes. Das Tor steht offen.

Das Heim liegt am Ortsrand gegenüber einer Einfamilienhaussiedlung. Dahinter beginnt der Wald. Die Baracken stammen von Anfang der Neunzigerjahre, Satellitenschüsseln hängen neben den Fenstern. Jetzt im Sommer wirkt es beinahe idyllisch, wie ein Campingplatz in der Natur. Es ist kaum Betrieb. Die Belegungszahlen sind seit den 90ern stetig zurückgegangen. Wie viele Menschen hier tatsächlich leben, kann niemand genau sagen. Denn viele, die hier gemeldet sind, bleiben im nahen Berlin, eine Stunde Zugfahrt entfernt. Auch wenn die sogenannte Residenzpflicht es ihnen verbietet.

"Der einfachste Weg, hier herauszukommen, ist in die Disko zu gehen", sagt Obiri. Er sagt es verächtlich, denn er hat diesen Weg nicht gewählt. Eine Beziehung, ein Kind mit einer Deutschen ist die Eintrittskarte ins echte Leben. Es ist einer der Tricks, einer der Kompromisse, die Obiri in seinem Leben abgelehnt hat. Eine Konsequenz, die ihn an Belzig gefesselt hat. An den Knast ohne Gitter. An das Gefängnis ohne Entlassungstermin. So nennt er das Heim.

"Das Leben hier macht uns krank", sagt er. "Auch ich bin krank. Es ist doch ein Zeichen von Krankheit, nach 13 Jahren in einem Land die Sprache nicht richtig zu können." Obiri spricht Deutsch, aber nicht so, wie er es möchte. Kein Predigerdeutsch, kein Politikerdeutsch, kein Schriftsteller- oder Journalistendeutsch. Also schreibt er auf Englisch. Zwei Bücher hat Obiri in den vergangenen Jahren fertiggestellt, nachts in den Computer gehackt, wenn sein Zimmernachbar bei Freundin und Kind in Berlin war. Auf Zugfahrten hingekritzelt. Kurze Absätze. "Ich musste schreiben", sagt er. "Ich musste ein Ventil für den Druck finden, der sich hier aufbaut. Viele Flüchtlinge hier werden Alkoholiker, andere kiffen oder machen alle Arten von Geschäften. Ich musste mir einen anderen Weg suchen."

Sein erstes Buch, erschienen 2007, heißt "Die Brandenburger Brücke". Verlegt hat er es über das Internetportal Lulu. Als Print-on-Demand können dort einzelne Exemplare bestellt werden. Belziger Schüler haben seine Miniaturen aus dem Heimalltag übersetzt. Plötzlich kannten ihn die Belziger. Zehn Jahre lang war Obiri fast nie in der Stadt, ist höchstens die zwei Häuserblocks zum Penny-Markt gelaufen oder hat das Zentrum des 9.000-Einwohner-Orts auf dem Weg zum Bahnhof durchquert. Meistens blieb er im Heim. "Nicht aus Angst", betont Obiri. "Ich hatte nur keinen Grund, in die Stadt zu gehen." Von fremdenfeindlichen Attacken blieb er nicht verschont, spielt sie aber herunter. "Ja, in Potsdam haben mich Leute im Bus als Nigger beschimpft. Aber es ist bei Worten geblieben."

Seinen großen Traum vom Exilpolitiker träumt Obiri schon lange nicht mehr. "Ich werde alt", sagt er leise und wirkt in diesem Moment wirklich weit älter als 44. "In 13 Jahren könnte jemand Präsident werden, oder als Forscher eine große Entdeckung machen. Oder er kann hier herumsitzen und sich mit den Mücken anfreunden." Oder er kann, wie Obiri es tat, einen Verein gründen. "Cagintua" heißt seine Organisation, sie hat sich demokratischen Wandel in Afrika auf die Fahnen geschrieben. "Keine korrupten Regime mehr, keine Potentaten, die ihr Geld lieber in die Schweiz bringen als es ihrem Land zugute kommen zu lassen."

Ähnliches hat auch Barack Obama kürzlich bei seinem Besuch in Ghana gesagt. Obiri hat innerlich gejubelt. "Endlich hat ein amerikanischer Präsident einmal die Wahrheit gesagt." Cagintua aber ist eine kleine Organisation. Am Freitag veranstaltet der Verein eine Konferenz in Potsdam, mit internationalen Referenten. Ein Kraftakt - und eine Hoffnung.

Gerade hat Obiri sein zweites Buch fertiggestellt. "Tales from Exile" heißt es. Stolz zeigt er sein Autorenexemplar, an dem er gerade die letzten Korrekturen vornimmt. Es enthält wieder mehrere Geschichten, diesmal umfassen sie aber bis zu hundert Seiten. Obiri schreibt nicht mehr ganz so atemlos. Die erste Geschichte ist zum Teil seine, sagt er, die Odyssee eines Afrikaners nach Deutschland. "Dafür hätte ich gerne einen richtigen Verlag. Es könnte auch in Afrika erscheinen", hofft Obiri. "Um die Jugend zu warnen." Gewidmet hat er es seiner Mutter. Die ihm damals sagte: Geh nicht nach Europa.

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