Tochter von Stasi-Offizieren: "Mit mir hat es viel gemacht"

Das System der DDR-Staatssicherheit setzt sich bis heute in Familien fort: Anna Stöber hat den Kontakt zu ihren Eltern komplett abgebrochen. Sie waren Stasi-Offiziere.

Vor fast 20 Jahren: Demonstranten stürmen 1990 die Stasi-Zentrale in Berlin. Bild: ap

Grüne, schwertartig steife Blätter mit weißem Rand lassen Anna* erschaudern. Sansevieria, der gemeine Bogenhanf. Es ist eine Gattung, die problemlos im Schatten gedeiht. Das perfekte Behördengewächs. Es ragt aus den Kübeln an der Treppe im ersten Obergeschoss. "Duldsam wie nüscht", sagt Frau Schulz, "nach der Wende gab es die eine Zeit lang nicht. Die Ossis hatten die Schnauze voll davon. Die wollten alle Palmen." Frau Schulz kümmert sich hier; sie sagt, sie sei das Urgestein. In der Normannenstraße 22 in Berlin-Lichtenberg, wo Erich Mielke regierte, hat Sansevieria auch botanische Moden überdauert. Als lebendes Artefakt.

Die Berliner Zentrale von Mielkes Firma war ein schattiges Biotop, das sich auf 22 Hektar erstreckte und rund 20.000 hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) eine Nische bot. Von hier aus hegte Mielke den gesamten Apparat und ließ ihn sprießen. Alle zehn Jahre verdoppelte sich die Mannschaft, 1989 schützten DDR-weit 91.015 hauptamtliche Mitarbeiter den Sozialismus. Ein Agent pro 180 DDR-Bürger. Kein Staat des Ostblocks sorgte sich auch nur annährend intensiv.

In der Zentrale, der "verbotenen Stadt", wie Anna sagt, arbeitete auch das Ehepaar Stöber*, Annas Eltern. Sie haben nie darüber gesprochen. Anna, Mitte 30, hieß bis zu ihrer Hochzeit auch Stöber, als Kind trug sie den Namen Heim*. Herr Stöber ist Annas Stiefvater. Er ist hier nicht wichtig, sagt Anna. Wichtig ist nur ihre Mutter. Die Agentin einer Diktatur. Ein Rädchen im Repressionsapparat oder vielleicht doch mehr? Bis Anna vor ungefähr drei Jahren das Schweigen ihrer Mutter nicht mehr ertrug und deswegen zum Selbstschutz den Kontakt abbrach, da hieß es immer, ihre Mutter hätte als Dolmetscherin für das MfS Telefongespräche und Abhörprotokolle übersetzt. Sie habe Delegationen zur Leipziger Buchmesse begleitet. Was das für Gespräche gewesen seien? Überhaupt: wie sie warum und wann in die Firma kam, ob vielleicht die Stasi-Verwandtschaft so enormen Druck ausgeübt habe? Und zudem: warum sie so emotionslos sei, auch zu ihr, zu Anna?

Vielleicht, meint Anna, wird Frau Stöber nie reden, vielleicht wird sie diesen Artikel lesen und noch mehr dichtmachen, denn sie versteht das alles nicht. Sie hat sich schön eingerichtet in Kaulsdorf. Sie verdient gut als Generalvertreterin einer Versicherung, ein Reihenhaus, und beide fahren ihren eigenen Wagen. Anna will wissen: "Wer bin ich, und wo gehöre ich hin?" Ihr ist klar: "Mit mir hat es viel gemacht, dass sie sich selbst nicht zeigt. Es hat mein Leben versaut. Diese Gesprächsverweigerung ist unglaublich." Anna spürt: "Meine Mutter ist eine Leerstelle."

Wer diese Leerstelle auffüllen möchte, bekommt nach vielleicht 2 Monaten 85 Kopien der Birthler-Behörde zugeschickt. Hauptsächlich Material über Herrn Stöber. Von Frau Stöber existieren nur vier Seiten ihrer "Kaderkarteikarte". Dass es nicht mehr ist, liegt an ihrer Dienststelle: "MfS HVA/VII". Die HVA ist die Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsnachrichtendienst der DDR. Jens Gieseke, der das Standardwerk "Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit" geschrieben hat, sagt, von allen in der HVA tätigen Mitarbeitern, die noch 1989 im Dienst waren, gibt es keine Akten mehr. Die HVA durfte sich zur Wende selbst "auflösen", also ihre Akten vernichten. Die Menschen aber gibt es noch.

In der Karteikarte steht, dass Frau Stöber schon als 18-Jährige zum MfS kam und wie ihr Gehalt von 550 DDR-Mark im Jahr 1966 bis schließlich 1.100 DDR Mark im Jahr 1987 stieg, wie sie mit Wirkung zum 1. 9. 1966 mit dem Befehl K1321/66 Soldat des MfS wurde, dann "Utltn.", was wohl Unterleutnant heißt, weil dann der Leutnant, Oberleutnant und 1982 der Hauptmann folgten. Sie hat von ihrer Firma sieben Auszeichnungen bekommen, etwa die "Med. d. Waffenbrüderschaft in Bronze". Von Annas Mutter, von Hauptmann Stöber, ist zwar ein Foto in der Akte, doch sie ist nicht richtig zu erkennen, denn ihre Augen verdeckt ein schwarzer Balken. Es ist, als würde sich die Übersetzerin im Dienst des MfS wieder verstecken.

Nichts verrät die Kartei über ihre Motive und über die Brüche, nichts steht da über ihren Bruder. Er ist ein bekannter Bildhauer geworden, der weltweit ausstellt. Er gehörte zur Boheme in Prenzlauer Berg, zum Kreis um Cornelia Schleime, und er wurde "operativ bearbeitet". Er stellte 1982 einen Ausreiseantrag. Doch weil seine Familie dem MfS angehörte, organisierte der Apparat den Kauf von einigen seiner Arbeiten, "trotz formaler Bedenken" gegenüber seinem schöpferischen Wirken. Er ließ sich zwar nicht umstimmen, doch die Ausreise zögerte sich bis ins Jahr 1985 hinaus. Letztlich war der Bruder für Hauptmann Stöber eine Zumutung. "Der hat im Leben meiner Mutter keine Rolle mehr gespielt", sagt Anna. Der wurde verstoßen. Anna meint, der sei sicher ein cooler Typ. Doch sie ruft ihn nicht an. Wer weiß, vielleicht würde er ihre Mutter kontaktieren.

Annas leiblicher Vater ist nicht mehr da. Vier Tage nach seiner Beerdigung begann ihr Jahr als Austauschschülerin in Amerika. Über seinen Tod wurde nie gesprochen. Das Bedürfnis zu reden, sagt Anna, kann ihre Mutter nicht nachempfinden, das findet sie bedrohlich. Das kommt von ihrem ehemaligen Job in der Normannenstraße. Dass sich Anna nicht mehr meldet, empfindet ihrerseits die Mutter als ungerecht und unverständlich. "Sie missversteht mich, ihr fehlt der Zugang", sagt Anna. Zu Annas Geburtstag kam eine Karte. Sie hofft, schreibt ihr die Mutter, dass Anna Kraft und Mut habe, ihr Schweigen zu brechen, sagt Anna. Sie findet das sehr amüsant, weil es ja genau andersherum ist. "Ich habe das Schweigen ja nicht etabliert." Manche Gespräche mit ihrer Mutter hat Anna heimlich aufgezeichnet. Sie wollte sich absichern, vorbeugen, dass ihr die Wörter verdreht würden. Die Mutter habe einmal versucht, Annas Mann davon zu überzeugen, wieder mit ihrer Mutter zu reden. Sie hatte gesagt: "Wir sind doch eine Familie." Anna versteht unter Familie etwas anderes.

Anna ist eine starke Frau. Sie ist klug und kann Dinge so treffend beschreiben, dass nichts mehr hinzuzufügen ist. Sie war in der DDR in der Schule immer die Beste. Sie war ab der 2. Klasse jahrelang die Gruppenratsvorsitzende. Die Familie gehörte in der klassenlosen Gesellschaft zur spießbürgerlichen Oberschicht. Mit Telefon, Schrankwand und Neubauwohnung. Vor der Haustür stand der Trabi, neuester Schrei: gletscherblau, mit ausklappbaren Fenstern hinten. In der Schule hat Anna, auch weil sie schneller im Kopf war, einen auf dicke Hose gemacht, sagt sie. "Ich war nicht sehr beliebt, die hatten richtig Angst vor mir. Ich war Einzelkämpfer bis zum Mauerfall." Den Mauerfall hat Anna als bedrohlich empfunden, gesprochen haben sie nicht in der Familie, wie immer. Anna, die ein gutes Gedächtnis hat, kann diese Zeit nicht abrufen, es ist wie mit dem Tod ihres Vaters - wie gelöscht.

Als Tausende den 13-geschossigen, graugekieselten Plattenriegel der HVA, Ruschestraße Ecke Frankfurter Allee, am 15. Januar 1990 stürmen, geht das in die Geschichte ein. Als ein großartiger Akt der Selbstbefreiung von den Schergen der Diktatur. Annas Eltern flüchten an diesem Tag vor der neuen Zeit durch den Hinterausgang, und plötzlich führt Hauptmann Stöber Touristen durch die Stadt.

Am ersten Tag der deutschen Einheit ziehen sie nach Karlshorst. Für Anna, die gerade zwölf Jahre alt ist, entscheidet sich hier ihre Zukunft. Denn weil Paranoia beim MfS, wie bei jedem Geheimdienst, die Geschäftsgrundlage bildet, rekrutierte sich der Apparat zum größten Teil aus dem eigenen Fleisch. Ende der 80er-Jahre lag die Quote bei denjenigen, die Familienmitglieder beim MfS hatten, bei weit mehr als 50 Prozent. Der Forscher Jens Gieseke sagt: "Auf die Kinder wurde natürlich geguckt. Wer in der 7. oder 8. Klasse war, wurde gescreent: Wer kommt infrage?" Das ist die empirische Wirklichkeit. Für Anna gib es da noch eine andere.

Wegen der Stasi, sagt Anna, war ihre Mutter gezwungen, keine Gefühle mehr zu haben. "Das Emotionale an mir hat sie gestört, weil ich sie an meinen Vater erinnert habe. Ich war in diesem Sinne für sie bedrohlich." Die Mutter habe beim MfS gelernt, dass es keine Intimsphäre gebe und gleichzeitig keine Nähe. Kein Gesicht zeigen und gleichzeitig Grenzen überschreiten. "Du hast keine eigene Meinung, du fügst dich ein, aber dein Gegenüber muss dir alles geben", beschreibt Anna. So setzte sich das System in den Personen fort. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sie unter sich blieben. Diese Klarheit im Systemgehorsam, das Roboterhafte der Mitarbeiter. Wenn überhaupt, dann hatten Annas Eltern ausschließlich Freunde, die auch im Dienst der Firma standen. Abgesehen davon, dass sie selbst streng überprüft wurden: Vielleicht konnten Hauptamtliche gar nicht mehr anders nach zig Jahren im Ministerium, vielleicht verstanden sie Menschen ohne MfS-Ausweis buchstäblich nicht mehr.

Der Vater von Hauptmann Stöber, ein General, erhielt von Erich Honecker persönlich unterschriebene Karten zum Geburtstag. Ihre Mutter, sagt Anna, habe es vielleicht einfach nicht rechtzeitig geschafft, auszubrechen aus diesem linientreuen Haushalt. Wie Anna war die Mutter gut in der Schule. Dann habe sie Dolmetscherin für Englisch und Spanisch in Leipzig studiert. Anna studiert Germanistik und Amerikanistik, sie arbeitet fast zehn Jahre als freiberufliche Übersetzerin.

Heute ist sie Lektorin für Filmuntertitelung. Wie Anna war die Mutter für mehrere Monate in den Vereinigten Staaten, wahrscheinlich bei der UNO, mutmaßt Gieseke. Die Mutter lässt sich scheiden, Anna lässt sich scheiden. Bei beiden werden die Schwiegermütter über die Trennung hinaus zu wichtigen Bezugspersonen. Die Mutter von Annas Mutter war ein Aas, und deswegen brach auch sie den Kontakt zu ihr ab. Anna sagt, sie wolle nicht wissen, was aus ihr selbst geworden wäre, wenn keine Revolution die Ruhe der Staatssicherheit gestört hätte. Anna sagt: "Es ist schizophren: ich lebe die Parallelbiografie meiner Mutter, sowenig ich das möchte. Ich bin total froh, dass ich spät geboren bin."

Vielleicht haben Anna und ihre Mutter wegen des Schweigens Sprache zu ihrem Beruf gemacht. So allerdings hat das mit den Parallelen seine Grenzen, denn eigentlich weiß Anna nicht, wer ihre Mutter ist. Sie weiß nicht, was sie gerne isst, was sie denkt, was sie fröhlich macht oder welche Farbe sie mag. Ihre Mutter, glaubt Anna, hat ihre Ruhe gefunden mit den Autos und dem Haus in Kaulsdorf, da, wo niemand fragt, was sie früher einmal gemacht hat. "Es ist eine heilige Ruhe", findet Anna.

*Namen geändert

Das Bedürfnis zu reden, sagt Anna, kann ihre Mutter nichtnachempfindenIhre Mutter, glaubtAnna, hat ihre Ruhegefunden mit denAutos und dem Hausin Kaulsdorf

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.