Kolumne: Hausdurchsuchung? KSZE!

Die SPD beendete den rhetorischen Kalten Krieg - ein bleibendes Verdienst.

Es gibt Dinge, die macht man einfach nicht. Wer zum Beispiel die SPD lobt, ist nicht mehr ganz ernst zu nehmen in den Augen seiner Mitmenschen, und selbst die größten Nullen entwickeln sofort eine Art intellektuelles Überlegenheitsgefühl. Ältere Herren Ost fangen dann manchmal sogar an zu singen: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!"

Loben wir also die SPD! Warum nicht im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls die These wagen: Mauerfall und Wiedervereinigung sind nicht zuletzt ihr Verdienst! Ja, mehr noch: Die Einkehr des zivilen Tons in Ost und West verdanken wir den Sozialdemokraten! Und wer die DDR und ihre Feindesrhetorik kannte, weiß nichts so sehr zu schätzen wie den zivilen Ton.

Irgendwann Anfang der Neunzigerjahre hieß der Rostocker Bahnhofsvorplatz plötzlich Konrad-Adenauer-Platz. Mich hat das geärgert. Allein dieser bellende Kalte-Krieger-Ton, in dem Adenauer von der "Soffjetzone" sprach! Ohnehin blieb die Sprache der neuen Demokraten West noch lange die alte, nur der Feind hatte gewechselt. Zu Beginn der fünfziger Jahre hatte der Rias einen Auftrag für seine Hörer im Osten: "Achtung! Achtung! Wir sprechen zur Sowjetzone. Achtet auf den Arbeiterverräter, den Banditenführer Garbe mit seinen Trabanten. Schlagt ihn, wo ihr ihn trefft!" Der "Banditenführer" war nur ein Arbeiter, der auf seine naive Weise die Hoffnung des Sozialismus ganz ernst genommen hatte: So gut wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben! Und so arbeitete er für zwei, für drei.

Solange der Westen klang wie er klang, waren die herrschenden Kommunisten der DDR beruhigt. Schlagt ihre Führer tot!, lautete schon 1918 der Auftrag an alle braven Bürger. Und er wurde erfüllt, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg überlebten die Jagd nicht lange. Es ist schwer, Kommunist zu sein ohne Klassenfeind. Solange Adenauer regierte, hatte auch Ostberlin irgendwie recht.

Natürlich fühlt sich jeder Schulbuchdemokrat an dieser Stelle provoziert - selbst von Spiegel-TV weiß man es doch besser. Der Beitrag "Deutschland im Kalten Krieg" zeigt Aufnahmen der Moskauer Militärparade vom Juni 1945 - das Land mit den Millionen Kriegstoten feierte den Sieg über Hitler -, und Spiegel-TV kommentiert die waffenstrotzenden Bilder: "Stalin ist entschlossen, seinen Machtbereich über ganz Europa auszudehnen … und seine Schergen sind fest entschlossen, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen." Gerade so hatten die Nationalsozialisten den Überfall auf die Sowjetunion begründet. Das am Boden liegende, ausgeblutete, schon vor Kriegsbeginn fast unregierbare russische Riesenreich - die Hauptbedrohung Westeuropas? Es gehört schon eine Portion Dummheit oder Demagogie dazu, das zu behaupten, nur weil der eigene mehr oder minder offene Vernichtungswille nicht ins demokratische Selbstbild passt.

Aber dies soll keine Schmäh-, sondern ein Lobrede werden. Das Lob der Sozialdemokraten im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls. Jedes Lob braucht einen Kontrastgrund. In der letzten Woche gedachten wir des ersten großen Lochs im Eisernen Vorhang. Und dieses ungarische Loch wiederum ist nicht denkbar ohne eine mehr als fünfzehn Jahre zurückliegende Konferenz. Und diese Konferenz ist nicht zu denken ohne den Regierungsantritt der SPD. Es war die "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", deren Schlussakte 1975 in Helsinki unterzeichnet wurde.

Fortan geschah Merkwürdiges. In den mitunterzeichnenden Ländern Osteuropas bildeten sich Menschenrechtsgruppen wie die "Charta 77" in der Tschechoslowakei. In der DDR stieg die Zahl der Ausreiseanträge sprunghaft an. Zwar wussten die Ostdeutschen wie alle widerrechtlich Inhaftierten, dass sie ein Recht auf Freiheit haben. Aber jetzt konnten sie dieses Grundrecht vor dem eigenen Staat zitieren, denn dieser war leichtsinnig genug gewesen, jene Schlussakte zu unterzeichnen. Damit war die DDR dem Geltungsraum der Menschenrechte beigetreten. Was Mitte der siebziger Jahre begann, wurde in den Achtzigern zur Massenbewegung. Noch keinen Ausreiseantrag gestellt zu haben, war am Ende der DDR unter Jugendlichen mindestens genauso ehrenrührig wie eine DDR-Jeans zu tragen. Auch traf die Volkspolizei mitunter auf ganz neue Widerstände, wenn sie etwa die Absicht äußerte, eine Wohnung zu durchsuchen. Unter Hinweis auf die Schlussakte von Helsinki bedauerten Mieter, dies keinesfalls gestatten zu können.

Die "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" war das trojanische Pferd, das die europäische Sozialdemokratie hinter die Verteidigungslinien des Feindes entsandt hatte. Des Feindes? Sagen wir richtiger: des Gegners. Denn die neue Ostpolitik der SPD machte ernst mit der Demokratie, insofern sie eine Kultur des Umgangs bedeutet: dem Gegenüber nicht von vornherein alle Legitimität abzusprechen. Hier begann der zivile Ton, um schließlich in den Herbst 89 zu münden, in das Paradoxon einer Revolution der Zivilisten.

Diese Überlegenheit des Westens, seiner demokratischen Form war zwingend: Sie entmächtigte die Feindesrhetorik der regierenden Kommunisten der DDR - plötzlich schien sie wie aus der Zeit gefallen und zumal den Jüngeren vor allem eins: lächerlich. Vielleicht sollte man erwähnen, dass es sich bei dieser höchst folgenreichen Konferenz nicht um eine Idee der westlichen Sozialdemokratie gehandelt hatte. Der Vorschlag kam, seit den fünfziger Jahren immer wieder erneuert, aus dem angeblich so aggressiven Osten, doch war er - vor dem Regierungsantritt Willy Brandts - immer wieder an westlichen, insbesondere bundesdeutschen Widerständen gescheitert.

Geschichte ist das, was jede Absicht durchkreuzt, vor allem die eigene. Sie besitzt einen bemerkenswerten Sinn für Ironie und Ungleichzeitigkeiten aller Art: Jeder weiß, das Revolutionsvolk Ost konnte 1989 die soeben errungene Autonomie gar nicht schnell genug wieder loswerden, legte sie aber nicht der SPD in die Hände, sondern den anderen. Und sofort begann der Kalte Krieg aufs Neue - nun auf dem Leichnam des einstigen Gegners.

Aber was machte das schon, wenn man ihn täglich wieder neu gewinnen konnte?

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