Expertengremium warnt: Ungetestete Pillen für Kinder

In seinem Gutachten warnt das höchste deutsche Expertengremium vor Fehlern in der medizinischen Versorgung bei Babys, Jugendlichen und Alten.

Mindestens ein Sechstel der bei Kindern angewandten Medikamente ist nicht speziell für diese getestet. Bild: dpa

Mehr HausärztInnen, mehr PflegerInnen und weniger riskante Medikamente für Kinder: Das sind die drei Kernforderungen, die der Sachverständigenrat zur Begutachtung des Gesundheitswesens in Deutschland in seinem diesjährigen Gutachten stellt.

Die sieben Experten kritisieren, dass etwa ein Sechstel der von Ärzten bei Kindern angewandten Medikamente gar nicht speziell für diese getestet oder zugelassen sind. Im Krankenhaus sei dieser Anteil sogar noch höher und könne bei bis zu 90 Prozent liegen, heißt es in dem Gutachten. Die Autoren fordern deshalb, "die Evidenz für die Arzneimittelanwendung bei Kindern durch klinische Studien zu verbessern". Nur so sei künftig die Wirksamkeit der Therapien und die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten.

Zwar sieht eine Verordnung der EU seit 2007 solche Tests vor, diese wird nach Meinung des Rates aber bisher nur unzureichend umgesetzt. Das Problem betreffe nicht nur Jugendliche und Schüler, sondern auch Kleinkinder und Säuglinge.

Eine weitere Fehlentwicklung konstatieren die Gutachter bei der Behandlung mit Psychopharmaka. Stimulierende Medikamente würden Kindern allzu sorglos verabreicht. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, der selbst bis 2005 im Sachverständigenrat saß, bestätigt: "Leider versuchen noch zu viele Ärzte und Eltern, schulische, erzieherische oder soziale Probleme mit Medikamenten zu lösen." Der Mediziner und Ökonom verlangt mehr Aufklärung bei Medizinern und Eltern. "Es kann nicht sein, dass das Kind mit Psychopharmaka behandelt wird, weil es sich in der Schule gerade nicht so richtig konzentrieren kann, oder weil es den Eltern zu zappelig erscheint", sagt Lauterbach. "Die Leistungssteigerung per Tablette kann sehr schnell gefährlich für das Kind werden."

Erst im Februar dieses Jahres veröffentlichte die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) eine Studie, laut der zwei Millionen Deutsche ihre Leistung im Job bereits einmal mit Psychopharmaka hochgeschraubt haben. Etwa 800.000 dieser Gehirndoper gelten als süchtig.

Der Sachverständigenrat wird von der GesundheitsministerIn berufen. Das Gremium untersucht die Entwicklung der Gesundheitsversorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen Folgen. Derzeit wird es vom Volkswirt Eberhard Wille geleitet.

Im aktuellen Gutachten bemängelt der Rat neben der falschen Versorgung der Kinder auch, dass es in Deutschland zu wenig Hausärzte gebe - es fehle an Nachwuchs. Gerade in einer alternden Gesellschaft sei dies fatal. Patienten, die besonders im Alter unter einer Vielzahl von Zipperlein leiden und oft chronisch krank sind, könnten von Hausärzten am besten umfassend beraten werden.

Auf diese Weise beziehen die Sachverständigen relativ deutlich Stellung für die Hausärzte, die sich aktuell wieder in einem Verteilungskampf mit den Fachärzten um die Honorare befinden. Deutschland hat 50 Prozent mehr Fachärzte als etwa Frankreich, Italien, England und Skandanavien.

Auch im Verteilungskampf zwischen Fachärzten und Krankenhäusern bezieht der Rat Position. Fachärzte haben im deutschen System das Interesse, ihre Patienten möglichst lange nicht in eine Klinik zu schicken, weil sie nur so an ihnen verdienen. Bei den Hospitälern ist es umgekehrt. Sie müssen viele Patienten stationär aufnehmen, weil sie die meisten Kassenversicherten nicht ambulant behandeln dürfen. Der Rat kritisiert diese "ineffiziente und ineffektive Konkurrenz".

Ebenfalls fatal ist laut Gutachten der Mangel beim Pflegepersonal. "In zehn Jahren wird die Babyboomer-Generation 50 Jahre alt und bekommt die ersten chronischen Krankheiten", sagt Gesundheitsexperte Lauterbach, "gleichzeitig sind deren Eltern aber noch am Leben." Auf diesen dramatischen Zuwachs an Pflegebedürftigen sei das Gesundheitssystem nicht vorbereitet. Vielmehr hat es in den vergangenen zehn Jahren etwa 50.000 PflegerInnen verloren.

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