Lettlands Freiheitsstatue: Frau Riga muss ohne Gatten tanzen

Die lettische Hauptstadt Riga ist derzeit ein beliebtes Ziel für westeuropäische Städtetouristen. Billigflüge nach Riga sind unbeabsichtigt zum Baustein des europäischen Integrationsprozesses geworden.

Das Schwarzhäupterhaus am Rathausplatz in der lettischen Hauptstadt Riga. Bild: dpa

Es ist nicht Lettland, das sich in Richtung Europa bewegt, sondern es sind westeuropäische Touristen, die sich im Billigflieger auf die Reise nach Riga machen. Die Billigflüge nach Riga sind unbeabsichtigt zum Baustein eines Integrationsprozesses geworden, der sich in der realen Möglichkeit des schnellen und günstigen Reisens widerspiegelt. Die alte Frau auf der Straße in Riga in dem langen, rot karierten Rock und mit dem Hütchen auf dem Kopf dreht sich im Kreis. Immer und immer wieder, den linken Arm ausgestreckt als würde ein virtueller Gatte sie führen. Mit der Musik, die aus der von einem Tuch bedeckten Anlage schallt, bildet sie eine ungewollte, aber originelle Einheit der Disharmonie.

"Schallen" ist wohl das richtige Wort für die Töne, die sich durch die Rigaer Innenstadt ihren Weg suchen, vorbei an den Häusern aus Hansezeiten und den Cafés der Post-Sowjetperiode. Passanten, selbst wenn sie eine Münze in die bereitgestellte Mütze werfen, nehmen kaum wahr, dass die Alte sich verloren im Kreis dreht, ihre Hand nach einem Tänzer ausgestreckt, der sie nicht ergreift - und vielleicht auch gar nicht mehr da ist, sie zu ergreifen.

Lettland hatte über die letzten Jahrhunderte - mit einer kurzen Ausnahme zu Beginn des 20. Jahrhunderts - immer einen Gatten an der Seite, der das Land führte, Richtung und Geschwindigkeit der Tanzschritte bestimmte, auch wenn es meist Zwangsehen waren.

Im Mittelalter war es der Deutsche Orden, der das Geschehen dominierte, sich allerdings nicht allein auf der Tanzfläche befand. Umgeben von machthungrigen Staaten erlebte das Baltikum seit dem 16. Jahrhundert einen ständigen Wechsel der Tanzpartner: Polen, Schweden, Dänen und natürlich Russen kämpften um die Führung, ohne der Tänzerin selbst viel Beachtung zu schenken.

Es waren die Schweden, die einen relativ sanften Rhythmus im Baltikum vorgaben. Es waren Hitler und Stalin, die das baltische Mädchen so verstörten, dass es sich in seliger und naiver Verzweiflung dem einen um den Hals warf, kaum dass dieser den anderen vertrieben hatte.

Günter Löb und Siegfried Layda machten sich 1995 in ihrem essayistischen Reiseband "Der baltische Weg" auf die Suche nach ebendiesem. Die Autoren führen uns durch ein Baltikum, das gekennzeichnet ist durch den historischen und geografischen Einfluss Russlands; durch eine Hauptstadt Riga, deren Architektur geprägt ist von "herrlichem Jugendstil wie in Berlin, Hansehäusern wie in Lübeck, Holzhäusern wie in Moskau sowie Palästen wie in Paris". 1995 befinden wir uns in einem Riga der architektonischen Gegensätze.

Auf dem Markt Bild: bretagne_32/pixelio.de

Wir begeben uns auf die Route, die Löb und Layda 1995 auf ihrem baltischen Weg abschritten, lassen sie neu aufleben: Wir finden in der Altstadt den Dom sowie Petri- und Jakobikirche. In der Kleinen Schlossstraße sehen wir die drei Brüder - drei dicht beieinanderstehende Bürgerhäuser aus drei verschiedenen Jahrhunderten.

Weiter ziehen wir in Richtung Freiheitsstatue, die wenig später am Ende der Fußgängerzone zu erblicken ist. Oben auf der langen Säule steht, aufrecht und gerade, eine Frau, die drei goldene Sterne in den Himmel emporreckt. Vorbei geht es aber zunächst an einer alten Bekannten: einer Frau in rot kariertem Rock, die kreiselnd tanzt und genau wie die Freiheitsstatue einfach nicht umkippen will. Weder Nazis noch Sowjets haben es gewagt, die Statue, Symbol des lettischen Stolzes, anzurühren.

Wir folgen weiter der Route anno 1995, um wenig später die orthodoxe Kirche zu erblicken, ein Symbol des Zarentums und heute Stätte der Russen in Riga, die immerhin 40 Prozent der Stadtbevölkerung stellen. Wir gehen nach links in die Elisabethenstraße und stehen plötzlich inmitten von Häusern, geprägt vom Jugendstil. Die architektonischen Widersprüche existieren heute ebenso wie 1995.

Aber was ist jenseits der Architektur passiert? Den schwierigen Anfangsjahren, der Zeit der Neuorientierung in den 90er-Jahren, folgte seit 2000 ein stabiles Wirtschaftswachstum und 2004 der Beitritt zur Europäischen Union; dann geriet das Land in den Strudel der Finanzkrise und stürzte mit flehendem Blick nach Brüssel und IWF in eine schwere Rezession.

Wir erleben in Lettland ein erstaunliches Phänomen: Es ist nicht Lettland, das sich an Europa orientiert, sondern die Europäer kommen nach Lettland. Die Post-Mallorca-Generation lebt in Riga ihre neue Leidenschaft aus: Klick und weg. Easyjet fliegt von Berlin, Ryan Air von Frankfurt Hahn, Düsseldorf Weeze und Bremen. Flüge gibt es für 20 Euro. Riga hört sich zwar nicht exotisch an, aber auch nicht nach Langeweile.

Sandijs Madrevics, Besitzer des Design-Hostels City Lounge, nennt drei Gründe, die die Touristen nach Riga ziehen: "Erstens ist Riga eine wunderschöne Stadt, zweitens, kein Scherz, das ist wirklich wichtig, gibt es schöne Frauen, und drittens sind die Flüge billig."

Madrevics bastelte ein Jahr lang an seinem Hostel, achtete auf jedes Detail. 40 Prozent seiner Gäste kommen aus Deutschland. Die meisten klappern die Sehenswürdigkeiten mit ihren Reiseführern ab und lassen es sich abends in einer der zahllosen Kneipen gut gehen.

Wie viel lettische Kultur kriegen die Studenten und Freelancer, die Berufseinsteiger und jungen Pärchen in Riga aber tatsächlich mit? Und wie viel Kultur bringen sie mit? Die Besucher plaudern mit den angestellten Einheimischen im Hostel, sie tanzen in lettischen Diskotheken, flirten mit lettischen Frauen und werfen auf ihrem Rundgang durch die Rigaer Altstadt einer alten Frau, die etwas verloren in Sichtweite der Freiheitsstatue zu den durch die Gassen schallenden Tönen ihrer Musik kreiselt, ein paar Münzen in die Mütze. Dann gesellen sie sich zu der kreiselnden Frau, um den Tanz der Alten zu imitieren. Und während ein 20-jähriger Tourist den Clown macht, nimmt ein Mitreisender ein Video mit seinem Handy auf. Für 20 Euro geht es am nächsten Tag mit dem Flieger nach Hause. Zwei Tage später sind alle Reiseerinnerungen im Internet zu finden. Die Fotos bei Facebook, die Bewertung des Hostels bei hostelworld.com und die alte Frau bei YouTube.

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