Konzert an 50 Orten: Erste Geige mit Tatort-Atmosphäre

Die Hamburger Philharmoniker haben sich von der Bühne gewagt und ein Brahms-Konzert an 50 Orten in der Stadt gespielt. Der PR-Gag gelang: Musiker wie Publikum hatten Spaß an der ungewohnten Nähe.

Johannes Brahms im U-Bahnhof: Die Hamburger Philharmoniker machens - ausnahmsweise - möglich. Bild: ULRIKE SCHMIDT

"Ist das hier eine Fahrkartenkontrolle?" Ihr Blick fällt auf die beiden blau gekleideten Sicherheitsmänner, die am Geländer der Treppe hinunter zur Linie 2 der U-Bahn-Station Schlump lehnen und sich unterhalten. Nein, das ist keine Fahrkartenkontrolle, das ist hier ein kleiner Teil des größten Konzerts der Welt, möchte man ihr antworten, aber da ist die junge Frau schon in Richtung Ausgang davongeeilt. Wäre sie geblieben, dann hätte sie den beiden Trompetern Matthias Müller und Mario Schlumperger zuhören können, wie sie im Bahnhof die Zweite Sinfonie von Brahms spielen.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Hamburger Philharmonie haben die etwa 100 Musiker am Montagabend ihren Konzertsaal in der Laeiszhalle verlassen, um an 50 Orten in der Stadt gemeinsam die Sinfonie Nr. 2 in D-Dur vom Brahms zu spielen. Mit dem PR-Gag "100 Musiker, 50 Orte, 1 Konzert" der Werbeagentur Jung von Matt wollten die Philharmoniker den Hamburgern abseits des Konzertsaals und der großen Bühne begegnen. Kein Orchester hat zuvor einen solches Konzert gegeben, vis à vis auch mit einem Publikum, das sonst nicht unbedingt den Weg in den Konzertsaal findet. Mit dem 200.000 bis 300.000 Euro teuren Event, das man bei Jung von Matt gern das größte Konzert der Welt nennt, will die Hamburger Philharmonie für sich werben, auch, um wieder mehr Besucher in die teilweise nur zu etwa 80 Prozent ausgelasteten Konzerte zu locken.

In der U-Bahn-Station Schlump sind es etwa 50 Menschen, die den Trompetern zuhören. Sie stehen draußen vor der Glasfront des Bahnhofes und im Halbkreis um die Musiker herum. Die sitzen ein wenig eingequetscht hinter dem Süßigkeiten-Laden in der Mitte der U-Bahn-Station vor einem kleinen Fernseher, der auf zwei übereinander gestapelten Pappkartons steht. Auf dem Bildschirm können die beiden Musiker der Dirigentin der Philharmonie, Simone Young, zusehen, die das über die Stadt verteilte Orchester vom 82 Meter hohen Turm der Michaeliskirche aus anleitet. Nebenbei hören sie eine 2008 aufgenommene Version von Brahms 2. Sinfonie, damit sie nicht ganz auf ihre Kollegen verzichten müssen. Die Trompeten der etwas verloren wirkenden Musiker vor den Pappkisten gehen dann im allgemeinen Gewusel der Passanten leider ein wenig unter. Die meisten Menschen gehen schnell vorbei, greifen im Gehen vielleicht noch nach einem Flyer der Philharmonie, nehmen aber nicht weiter Notiz von der Musik. Schade für die Trompeter, man hätte sie vielleicht besser nicht in die Ecke setzen sollen.

Überhören kann man die Musik in der Wohnung von Katharina Tugendreich und André Schmincke unweit der Hamburger Reeperbahn nicht. Schon im Hausflur sind Violinen zu vernehmen. Die Eltern eines vier Monate alten Sohnes sind vor einem halben Jahr aus München in ihre Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt und haben sich sofort gemeldet, als die Hamburger Philharmonie per Zeitungsannonce private Wohnungen auf St. Pauli suchte, in denen einige der Musiker spielen können. "Wir können wegen des Babys momentan nicht ins Konzert gehen", sagt der 34-jährige Schmincke, "also haben wir das Konzert eben zu uns nach Hause geholt." Dass nun die beiden ersten Geigen Danuto Kobus und Piotr Pujanek mit ihren Violinen auf dem Schoß zwischen Stehlampe, Zimmerpflanze und Ledersessel in ihrem Wohnzimmer sitzen, verdanken die beiden Klassik-Freunde dem Losglück.

Das bodenlange schwarze Kleid von Kobus mit dem paillettenbesetzten Ausschnitt verleiht dem Wohnzimmer etwas sehr Festliches. Pujanek ist im strengen schwarzen Anzug mit weißer Fliege gekommen. Aufgeregt sei er nicht, sagt der 29-Jährige und entlockt seinem Instrument jedes Mal einen kurzen, knappen Ton, wenn er die auf dem Violinensteg ruhende rechte Hand hebt, um das Gesagte zu unterstreichen. Auch wenn statt der gewohnten Ruhe vor Konzerten heute angeregter Smalltalk mit den Gastgebern, die extra Käsestangen und Baguette mit Pesto und Pistazien besorgt haben, auf dem Programm steht. Mit dem laufenden Fernseher auf dem durchsichtigen Plastiktischchen, der gelösten Stimmung und den brüllend laut einsetzenden Teebeutel-TV-Werbespots nach dem letzten Takt des 1. Satzes der Brahms-Sinfonie gleicht der Abend dann auch einem klassischen Sonntagabend-Tatort-Szenario. Es fehlen nur Chips und Pizza.

Dieser Eindruck verblasst jedoch, als der Kammerton A ausgestrahlt wird und die beiden Violinisten sich einstimmen. Und da ist er plötzlich, der besondere Konzertmoment der gespannten Ruhe, bevor der erste Takt erklingt. Dieser kurze Moment, in dem alle für einen Augenblick den Atem anhalten und den ersten Ton erwarten. Es gibt diesen einen besonderen Moment also auch zwischen Stehlampe und über dem Sofa hängendem Alpenpanorama.

"Dieses Konzert ist auch für die Zuhörer ein ganz neues Erlebnis, weil sie mal die einzelnen Stimmen des Orchesters hören können", sagt Kobus und bringt auf den Punkt, was auch die Zuhörer im Koch-Kontor im Karolinenviertel überrascht hat. "Ich hätte nie gedacht, dass die Flöten so viel spielen müssen", sagt Gisela Zuch. Die 60-Jährige besucht selten klassische Konzerte, der Abend mit den beiden Flötisten Björn Westlund und Jocelyne Fillion-Kelch, die sich mit ihren Instrumenten vor einer übermannshohen Bücherwand posiert haben, hat ihr aber gefallen. Auch die Mittfünzigerin in rotem Anorak, mit ebenso rotem Gesicht und leuchtenden blauen Augen ist begeistert: "Das war phantastisch", sagt sie. Ob sie sonst auch Konzertgängerin sei? "Nein", sagt sie leise. "Das ist auch eine Geldfrage, Konzerte sind teuer".

Der heutige Abend war für die Zuhörer kosten- und zwanglos. "Wir wirken auf der großen Bühne sehr unnahbar. Heute konnten wir mal zeigen, dass wir gar nicht kompliziert sind", sagt Westlund. Genau das goutieren auch die Zuhörer. Sie verabschieden sich mit einem herzlichen Händedruck, einem "Gut gemacht" und "Vielen, vielen Dank". "Vielleicht komm ich jetzt wirklich mal in ein echtes Konzert", sagt ein junger Mann noch bevor er geht.

Livemitschnitte von "100 Musiker, 50 Orte, 1 Konzert" unter www.philharmoniker-event.de

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