Prozess wegen Chemiekatastrophe: Zeitbombe mitten in der Großstadt

In Toulouse beginnt der Prozess zur Chemiekatastrophe von 2001. Damals starben in der Düngerfabrik einer Total-Tochter 30 Menschen bei einer Explosion, über 2.000 wurden verletzt.

Mehr als 1.600 Zivilkläger, über 200 Zeugen: der Gerichtssaal, in dem die Katastrophe von Toulouse verhandelt wird. Bild: reuters

PARIS taz Am 21. September 2001 starben in Toulouse dreißig Menschen bei der Explosion der Düngerfabrik AZF, mehr als zweitausend wurden verletzt. Nicht nur um die Schuldfrage geht es beim am Montag eröffneten Prozess, sondern auch um die Mitverantwortung und das Image des Konzerns Total.

Jeder in Toulouse erinnert sich an jenen 21. September 2001. Zuerst bebte die Erde, dann folgte ein Riesenknall, und wo vorher auf einem Industriegelände im Süden der Stadt die zur Gruppe Total gehörende Düngemittelfabrik AZF gestanden war, gähnte ein riesiger Krater. Zehn Tage nach dem Terrorangriff auf die Twin Towers von New York dachte jeder spontan an ein Attentat.

Für die Behörden dagegen stand schnell fest, dass die Katastrophe eindeutig auf eine chemische Reaktion zwischen zwei Substanzen zurückzuführen war. Die Ermittlungen bestärkten den Verdacht, dass durch unsachgemäße Lagerung im Hangar 221 eine gefährliche Mischung von Chemikalien entstand, die nur Feuchtigkeit brauchte, um zu explodieren. Bis heute hat diese Erklärung viele nicht überzeugt.

Der Prozess, der am Montag begann, soll die Zweifel beseitigen. Die Verhandlungen sollen vier Monate dauern, die Urteilsverkündung ist für November geplant. Mehr als 1.600 Zivilkläger, mehr als zweihundert Zeugen und Dutzende von Experten sind geladen. "Die Wahrheit werden wir nie erfahren", meint Michel Lasserre, der Inhaber einer kleinen Druckerei, der bei der Explosion einen Gehörschaden erlitt.

Zu mächtige Interessen stehen auf dem Spiel. Nicht zuletzt jene des Erdölkonzerns Total, dem AZF über die Firma Grande Paroisse gehörte. Der Vorsitzende dieser Total-Tochter steht nun zusammen mit dem AZF-Direktor wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Ob auch der damalige Total-Konzernchef Thierry Desmarest angeklagt wird, ist noch nicht entschieden.

Der französische Erdölkonzern bestreitet jede Schuld, er entschädigte aber mit insgesamt zwei Milliarden Euro die Opfer der Katastrophe. Wie schon bei einer anderen Umweltkatastrophe, der Ölpest nach dem Schiffbruch des Tankers "Erika", geht es Total um das Image. Nicht wenige verdächtigen den Erdölkonzern, er habe die Gerüchte genährt, die seine Verantwortung relativierten.

An Hypothesen für die Explosion bei AZF mangelt es nicht: ein Blitzschlag oder ein Feuerwerkskörper, ein Sabotageakt, ein Attentat oder gar ein Angriff aus dem All. Anwälte von Zivilklägern beschuldigen die Ermittler, sie hätten vorsätzlich alle Spuren ignoriert, die der offiziellen Version widersprachen.

In Toulouse hat die Katastrophe die Bevölkerung entzweit. Die ehemaligen Chemiearbeiter von AZF haben das Gefühl, dass man sie wie Mitschuldige schief anschaut, dabei gab es unter ihnen die meisten Opfer, und die Überlebenden haben auch noch ihren Arbeitsplatz verloren. Für eine Mehrheit ist dagegen seit der Katastrophe klar, dass Toulouse mit dieser Fabrik mitten in der Stadt wie auf einer Zeitbombe saß. Auf dem brachliegenden Unfallort soll nun statt einer Fabrik ein Krebsforschungszentrum entstehen.

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