mitschriften aus der letzten reihe (drei)
: Rollende Kampftruppe für Bayreuth – Nike Wagner soliert für den letzten Lebensabschnitt

Es ist ein bisschen enttäuschend: Nike Wagner trägt kein Abendkleid. Dabei soll die Urenkelin von Richard Wagner heute Abend doch über den großen Mythos Bayreuth sprechen – und damit über das musikalische Großereignis, bei dem einmal im Jahr die Prominenten aus Politik und Showbizz aus der Kulisse treten, um sich als gute Bildungsbürger konfirmieren zu lassen.

Zumindest die Besucher des Vortrags haben sich an die Fernsehbilder aus der Wagnerwelt erinnert. In gedeckter Abendgarderobe, Champagner nippend, lauschen sie andächtig den Worten der Frau, die so furchtbar eng mit dem berühmten Komponisten verwandt ist. Da jagt es einigen im gediegenen Saal des „Forum Tertianum“ einen Schauder durch das Edelkleid – dass man dem musikalischen Weltgeist nochmal so nah kommen würde!

Das „Tertianum“ darf sich zu den nobelsten Altenheimen Berlins zählen, die Verkäuferinnen aus dem KaDeWe gegenüber bestätigen das gern. Nike Wagner – ohne Kleid also, dafür immerhin ganz in Schwarz – steht vor einem roten Samtvorhang, neben ihr zwei beleuchtete Säulen aus Glas. Sie müsse, entschuldigt sie sich, auf ein Versehen in der Programmankündigung aufmerksam machen. Nicht „Mythos Bayreuth“ sei der Titel ihres Vortrags. Es solle vielmehr um den „Mythos Familie“ gehen. Die ersten Gehwagenfahrer rollen in die oberen Etagen zurück, wo sich die exklusiven Seniorenappartements befinden. Da soll doch lieber mal die eigene Familie was von sich hören lassen. Hätten sie nur einen kurzen Stopp am kalten Buffet eingelegt, sie hätten bemerkt, dass sie ohne Not auf eine delikate Mixtur aus Bildungsgut und Nabelschau verzichten, die es allemal mit dem Goldenen Blatt aufnehmen kann.

Wie es sich für ein Altenheim gehört, zitiert Wagner zunächst die guten alten Helden des mythologischen Familienzwists herbei. Ödipus tötet den Vater, Chronos frisst die eigenen Kinder. Und was zwischen den Generationen im Argen liegt, ist auch unter Geschwistern nicht besser. Fazit: Keiner gönnt dem andern was, jeder misstraut jedem. Holzauge, sei wachsam! Nike Wagner nennt es die „Erbsorge“, die in bedeutenden Dynastien immer dann zum Problem werde, wenn die großen Verteilungskämpfe um Macht und Geld ausbrächen. Da schaut sie in verständnisvolle Gesichter. Wer auf seine alten Tage in der „Residenz Tertianum“ Quartier beziehen kann, hat zeitlebens seine Finanzen gut zu verwalten gewusst und darf sich nun endlich Sorgen machen. Und während sich die Zuhörer von der sanften Stimme Wagners noch in den lichten Höhen mythologischen Halbwissens gewiegt meinen, hat die schon längst ganz andere Geschütze aufgefahren.

Plötzlich geht es um die familiären Rangeleien wegen der Leitung der Bayreuther Festspiele, die bei den Wagners traditionell gern in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Leider, erklärt Nike Wagner, hält Onkel Wolfgang Wagner nun schon seit fast vierzig Jahren an dem begehrten Posten fest. Das möge vielleicht die Lebensversicherer freuen. Für die Kunst aber sei das eine Katastrophe. Jetzt sei der Wolfgang ja schon 86, sagt Nike Wagner. Das müsse man sich mal vorstellen, ruft sie, und man hat fast ein wenig Angst, dass sie gleich auch noch „der alte Sack“ sagt. Manch einer im Saal, der dem Onkel altersmäßig gut das Wasser reichen könnte, hält da die Luft an.

Damit das nicht zu lange dauert, springt ein engagierter Anzugträger aufs Podium und überreicht der Rednerin mit großer Geste einen üppig drapierten Blumenstrauß. Applaus. Vorhang. Große Oper, auch ohne Musik. Wer noch stehen kann, genehmigt sich ein letztes Glas am Buffet und spült das ganze Familienelend schnell hinunter. Die älteren Semester des „Tertianum“ scheinen keine besondere Lust zu verspüren, sich für eine Kampftruppe zu bewerben, mit der Nike Wagner Bayreuth erobern will. WIEBKE POROMBKA

Eine Bildungskolumne – in Zeiten von Wissensgesellschaft und strategischer Selbstbewirtschaftung quasi ein Muss. Immer mittwochs im Zweiwochenrhythmus – bis zum Semesterende.