Stadtteilmütter und ihre Einstellung zum Nationalsozialismus: "Ich denke nicht gut über Juden"

Seit einem halben Jahr beschäftigen sich Neuköllner Stadtteilmütter mit dem Nationalsozialismus. Beim Film über Anne Frank kommen ihnen die Tränen. Der eigene Antisemitismus wird ausgespart.

Vor dem Gruppenfoto hält Inge Deutschkron einen Moment inne. "Das hier war eine Oase der Menschlichkeit", sagt die alte Frau mit dem burschikosen Kurzhaarschnitt und den streng nachgemalten Augenbrauen. Dann erzählt sie, wie der Kleinfabrikant Otto Weidt, der mit seiner Belegschaft auf dem Foto aus dem Jahr 1941 zu sehen ist, zur Gestapo ging und einen Teil seiner Arbeiter aus einem Sammellager zurückholte. "Wir waren verrückt vor Freude", erinnert sich Deutschkron. "Und Otto Weidt sagte: Jetzt müssen wir Verstecke suchen."

"Krass", murmelt Aylin, eine junge Frau mit rosafarbenem Kopftuch, die Deutschkron direkt gegenübersteht. Die Frauen neben ihr nicken.

Deutschkron ist Jüdin, sie hat den Holocaust überlebt. Weidt hat ihr dabei geholfen. In seiner Werkstatt, in der hauptsächlich blinde und gehörlose Juden Besen und Bürsten herstellten, hat Deutschkron als Sekretärin gearbeitet. 19 Jahre alt war sie damals. Heute ist sie 86, und Weidts ehemalige Werkstatt, die neben den Hackeschen Höfen liegt, ist ein Museum.

Inge Deutschkron führt hier regelmäßig Besuchergruppen durch die Ausstellung, häufig sind es Schüler aus der deutschen Provinz. An diesem Tag stehen 15 Frauen mit Migrationshintergrund vor ihr; viele von ihnen haben türkische Wurzeln, aber auch Frauen aus dem Irak, aus Sri Lanka, Polen und Eritrea sind dabei. Aylin ist mit 29 Jahren eine der jüngsten, die älteste geht bereits auf die 60 zu.

Alle Frauen leben in der Neuköllner Gropiusstadt und arbeiten dort als Stadtteilmütter. Das sind Mütter mit Migrationshintergrund, die Familien aus ihrer Community zu Hause besuchen und diese vor allem bei der Erziehung ihrer Kinder beraten. Bezahlt werden sie teils von der Arbeitsagentur, teils vom Bezirk.

Seit einem halben Jahr treffen sich einige der Stadtteilmütter regelmäßig, um sich mit NS-Geschichte zu beschäftigen. "Die Frauen wollen mehr über den Nationalsozialismus wissen, weil das wichtig für das Verständnis der deutschen Gesellschaft ist", sagt Jutta Weduwen von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), die das zehnteilige Geschichtsseminar begleitet. Deshalb sei die Gruppe an sie herangetreten. Weduwen will den Frauen Raum geben, um sich mit deutscher Geschichte zu beschäftigen - und so die Aufnahmegesellschaft besser zu verstehen. "Das ist eine Form von Integration." Das Geschichtsseminar der Stadtteilmütter, das vom Bundesinnenministerium finanziert wird, läuft derzeit zum zweiten Mal.

Die Frauen haben bereits das Haus der Wannseekonferenz und das Holocaust-Mahnmal besucht, den Film "Schindlers Liste" und ein Stück im jüdischen Theater angesehen, Gespräche mit Zeitzeugen und ihren Nachkommen geführt. Gleich nach der Führung in der Blindenwerkstatt steht ein Besuch im Anne Frank Zentrum an, das auf dem gleichen Grundstück im Hinterhaus untergebracht ist.

Inge Deutschkron ist inzwischen im Bonn der Nachkriegszeit angekommen, wo sie als Korrespondentin für eine israelische Zeitung gearbeitet hat. "Da waren viele alte Nazis, ich war sehr isoliert", sagt sie. Auch heute käme es noch vor, dass Leute weggingen, wenn diese erkennen, wer sie sei. "Und erst kürzlich hat mich wieder jemand gefragt: ,Was sind Sie eigentlich, Deutsche oder Jüdin?'"

"Wir werden auch immer wieder gefragt, ob wir Deutsche oder Türken sind", wirft Havva ein, eine Frau mit dunklem Pferdeschwanz und rot geschminkten Lippen. "Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, dass beides zusammengeht." Die eigene Erfahrung von Ausgrenzung und Diskriminierung sei einer der Gründe, warum sich die Frauen mit der NS-Geschichte beschäftigen, erzählt Havva später am Vormittag während einer Pause im Anne Frank Zentrum. "Natürlich gibt es Parallelen." So werde seit dem 11. September viel über den Islam hergezogen - "und Türkinnen werden nur noch über das Kopftuch definiert".

Vor allem aber will Havva, die schon vor 30 Jahren das "Tagebuch der Anne Frank" gelesen und sich seitdem immer mal wieder mit dem Holocaust beschäftigt hat, noch mehr über den Nationalsozialismus wissen. "Was man in der Schule lernt, das reicht nicht aus." Das gelte für Deutsche wie Migranten gleichermaßen. "Wer in diesem Land lebt, sollte sich damit beschäftigen."

Havva ist 50 Jahre alt, in ihrer Jeans und der modischen grünen Tunika sieht sie jünger aus. Als Kind türkischer Gastarbeiter ist sie nach Deutschland gekommen. "Linksorientiert, aber auch religiös" sei sie, sagt die ausgebildete Krankenschwester und zweifache Mutter. Ihr älterer Sohn ist aus dem Haus, als Jugendlicher war er in der Antifa aktiv. Mit dem jüngeren, der zwölf Jahre alt ist, hat sie eine Synagoge und einen Tempel besucht. "Ich habe meinen Kindern vermittelt, dass alle Menschen gleiche Rechte haben", sagt sie. "Es ist egal, welcher Religion sie angehören."

Im Anne Frank Zentrum läuft inzwischen ein Film über das Leben des jüdischen Mädchens, das sich in Amsterdam vor den Nazis versteckte und im KZ ermordet wurde. Als der Abspann über die Wand flimmert, zücken viele der Frauen Taschentücher. Havva schnieft, auch die 35-jährige Berrin hat Tränen in den Augen. Die Frau in Jeans und rosafarbenem Baumwollrolli ist ebenfalls Deutschtürkin. Sie ist in Berlin geboren.

Vier Wochen später sitzt sie gemeinsam mit zwei anderen Frauen im Foyer des Gemeinschaftshauses in Gropiusstadt. Die Stadtteilmütter haben an diesem Vormittag Teamsitzung, die drei Frauen sind für das Gespräch mit der Journalistin freigestellt. "Es ist eine Tragödie, was passiert ist, besonders mit den Kindern", sagt Berrin. "Aber wenn man so etwas erlebt, dann kann man es selbst doch nicht weitermachen." Berrin, die nach der Realschule vieles angefangen und wieder aufgehört hat, meint damit israelische Gewalttaten an Palästinensern. Neben ihr sitzt ihre Freundin Aylin, die 29-Jährige mit dem rosafarbenen Kopftuch, auch sie ist Deutschtürkin. Aylin teilt Berrins Ansicht: "Die Juden haben so viel gelitten - warum tun sie das dann anderen Menschen an?"

Dann erzählt Berrin von zwölfjährigen palästinensischen Mädchen, die vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt und erschossen werden. Das sei für Juden keine Sünde, weil die Opfer keine Juden seien. Sie sagt, dass Juden "immer zusammenhalten". Dass sie "immer oben stehen". Und dass sie "Jesus gekreuzigt haben". Aylin nickt zustimmend; Regina, eine Spätaussiedlerin aus Polen und die dritte Frau in dieser kleinen Runde, schweigt.

All das hatte die Mitarbeiterin des Anne Frank Zentrums im Gespräch mit den Frauen als antisemitische Vorurteile benannt - und mit einem kurzen Exkurs ins Mittelalter erklärt, woher sie kommen. Die Frauen waren betroffen, sie haben interessiert nachgefragt. Widerspruch gab es nicht. Als ASF-Frau Weduwen später von den antisemitischen Äußerungen einiger der Stadtteilmütter hört, ist sie überrascht. "Das habe ich überhaupt nicht beobachtet", sagt sie. "Die Frauen sind eigentlich immer voller Empathie für die verfolgten Juden." Diskussionen wie über den Nahostkonflikt hätte es kaum gegeben. "Wenn das Gespräch darauf kam, sind wir darauf eingegangen. Aber abgefragt haben wir die Haltung der Frauen natürlich nicht." Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus habe im Vordergrund gestanden, Antisemitismus sei nicht "das Thema" gewesen.

Aber reicht das aus? Müssen bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht auch die Vorurteile der TeilnehmerInnen reflektiert werden? Nicht unbedingt, meint Aycan Demirel von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, der selbst Projekte in Schulen durchführt. Mögliche antisemitische Äußerungen provozieren und die Teilnehmer dann damit konfrontieren - "so etwas funktioniert nicht". Die Teilnehmer würden dann einfach dichtmachen. Durch die Beschäftigung mit dem Holocaust aber könne man das Eis brechen, Nähe zu und Empathie mit Juden schaffen. "Das kann eine Öffnung in Gang setzen." Um antisemitische Stereotype aufzubrechen, brauche man eine langfristige Arbeit. "Genau das zeigt auch das Beispiel der Stadtteilmütter."

Patrick Siegele vom Anne Frank Zentrum, der ebenfalls vor allem mit Jugendlichen arbeitet, ist skeptischer. "Wir wissen nicht, wie wirksam die historische Auseinandersetzung für den aktuellen Antisemitismus ist", sagt er. Es könne durchaus sein, dass dieser Ansatz zu kurz greife. Darüber aber beginne in der historischen Bildungsarbeit gerade erst die Auseinandersetzung. Als Kritik an dem Stadtteilmütterprojekt will er das nicht verstanden wissen. "Davon darf man auch nicht zu viel erwarten." Es sei eine große Leistung, dass die Frauen sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Projekte für diese Zielgruppe gebe es ansonsten kaum.

Berrin weiß heute mehr über den Nationalsozialismus und den Holocaust. "Aber geändert an meinem Bild hat sich nichts", sagt sie. "Ich denke nicht gut über Juden." Die Begegnung mit Inge Deutschkron scheint wenig bewirkt zu haben.

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