Kolumne In Fußballland: Wer einer werden kann

Es kann schöner sein, von den Möglichkeiten eines Menschen zu träumen, als einfach nur zu erleben, wie er sie einlöst. Bei Philipp Lahm ist es anders – er hat seine übererfüllt.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit hatte sich Hermann Gerland neben mich gesetzt, und als die Bayern den Ausgleich schossen, jubelte er kurz, bremste sich dann und murmelte eine kurze Entschuldigung, die nicht nötig gewesen wäre. Schließlich ist der FC Bayern sein Arbeitgeber und wir schauten dem Spitzenspiel zu, bei dem der Tabellenführer aus Hoffenheim in München zu Gast war. Der Ausgleich war wichtig, keine Frage, da konnte er seine Freude ruhig zeigen. Außerdem standen wieder einige seiner ehemaligen Schüler auf dem Platz, die Gerland als Trainer der der zweiten Mannschaft in der Regionalliga zu Profis ausgebildet hatte. "Ich juble nur, wenn einer von meinen Jungs trifft", sagte er.

Philipp Lahm war einer von seinen besten Schülern gewesen. Jedenfalls schwärmt Gerland, der eher bärbeißig und kein Mann für Schwärmereien ist, von ihm, wenn man nur seinen Namen erwähnt. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass Lahm nicht nur ein großartiger Fußballspieler und freundlicher Mensch ist, sondern lange Schutzinstinkte weckte, weil er der Kleinste war, der lange übersehen wurde. Heute kann man sich nicht vorstellen, dass der neben Michael Ballack einzige deutsche Fußballspieler von Weltklasse keine einzige Berufung in bayrische Jugendauswahlmannschaften bekommen hat.

Auch Werner Kern schwärmt von Lahm, sobald die Rede auf ihn kommt. Der Leiter der Nachwuchsabteilung des FC Bayern hatte mir mittags vor dem Spitzenspiel erzählt, was für ein unglaublich besessener Kicker Lahm ist. Selbst als Profi hätte er während der Winterpause mit alten Kumpels noch in der Halle gekickt, und wenn er seinem Vater bei den Alten Herren zuschauen würde, könne man ihn nur knapp davon abbringen, die Fußballschuhe anzuziehen. Bei ihm hätte es als Kind auch wirklich gestimmt, dass er immer einen Ball dabeigehabt hätte. Ein Freund der Familie hatte ihm sogar von einer Anlage zum Üben von Fallrückziehern berichtet, die Lahm gebaut hatte und die im Wesentlichen aus einer alten Matratze bestand. Dieser Freund der Lahms war es auch, der angesichts des unglaublichen Talents bereits über den zwölfjährigen Philipp gesagt hatte: "Da müsste ich mich schon sehr täuschen, wenn der keiner wird."

Alle, die mit jungen Fußballspielern zu tun haben, lieben diese Geschichten, deren Stoff die Versprechung ist. Ein Freund von mir schaut sich lieber Nachwuchsspiele an, als in ein Bundesligastadion zu gehen, und das hat nichts mit dem Verdruss am Profifußball zu tun. Es hat einen ganz eigenen Zauber, einen Vierzehnjährigen zu sehen und sich vorzustellen, dass er vielleicht mal Weltstar wird, der alle Verteidiger narrt und umsaust. Es kann schöner sein, von den Möglichkeiten eines Menschen zu träumen, als einfach nur zu erleben, wie er sie einlöst. Und wenn ihm das nicht gelingt, hat es etwas Tröstliches. Sind wir nicht alle schon unter unseren Möglichkeiten geblieben und haben Talente nicht einzulösen verstanden?

Lahm hingegen hat inzwischen alle Hoffnungen übererfüllt, die in ihn gesetzt wurden. "Er ist smart, und das war er schon als Kind", erzählte Kern, der vor elf Jahren seinen heutigen Job übernahm. Damals war Lahm vierzehn Jahre alt und spielte bereits bei den Bayern. Kern sah ihn erstmals bei einem Jugendturnier in Italien. Der Ascheplatz war mit Steinen übersät und die Italiener bald sauer auf den Knirps, der sie da auf dem rechten Flügel vorführte. Sie begannen nach ihm zu treten, ihn zu jagen und bekamen ihn doch nicht zu fassen. In der Halbzeit meldete Lahm sich verletzt ab, denn irgendwann in der zweiten Hälfte wäre er es wirklich gewesen. Das war nicht faul, sondern schlau und gefiel Kern.

Abends jubelte Hermann Gerland noch ein zweites Mal und entschuldigte sich danach nicht mehr, obwohl es nicht einer seiner Jungs war, der in der Nachspielzeit den Siegtreffer erzielt hatte, sondern der Italiener Luca Toni. Die Gegner sanken entsetzt um, und Gerland sagte: "Fußball ist manchmal grausam." Dann erhob er sich, grüßte und verschwand in der jubelnden Menge.

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