Antonio Muntadas Ausstellung : Und jeden Tag stehen wir von Neuem an

Warten und Schlangestehen als global gültige Existenzweise : Antonio Muntadas Ausstellung "Räume, Orte und Situationen" in Santander zeigt Vermessungen unserer alltäglichen Lebensräume.

Wahrscheinlich, schaute man nur genau nach, bedeuten alle die vielen Gängelungen, denen wir im Alltag zunehmend ausgesetzt sind, bis hin zu den Anweisungen, wo wir zu gehen und zu stehen haben, Bonizahlungen an entsprechender Stelle. Irgendjemand muss an dieser Regulierungswut verdienen, die vor nichts haltmacht. Und wenn es am Ende der gemeine Wald-und-Wiesen-BWLer ist, der diese Reglementierungen auf irgendeine teuflische Art und Weise in zehn Prozent unseres Bruttosozialprodukts und tausende von Arbeitsplätze übersetzt und dabei unfähige Manager und Vorgesetzte deckt, deren einziges Führungskonzept die Ausweitung von Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen ist.

Sind wir wirklich so doof, dass wir glauben, Fantasieumsätze, Fantasiegeld und Fantasieerfolge seien nur ein Problem der globalen Finanzwirtschaft? Wahrscheinlich weiß der BWLer auch, wie produktiv die alltägliche Warterei ist, die uns ständig zugemutet wird. Und welche Zuwachsraten sie verspricht, vor allem dort, wo wir darauf warten, dass wir endlich durchsucht und auf unsere Identität hin kontrolliert werden. Schließlich unterscheidet sich das Einchecken in ein Flugzeug durch nichts vom Einchecken in den Knast - auch wenn der Nacktscanner, der das Szenario jetzt richtig perfekt machen sollte, als neue Geschäftsidee erst mal flachfällt.

Es ist nicht nur der Flug nach Bilbao, der zu solchen Überlegungen führt. Es sind vielmehr die letzten Fotoserien "Stand by I" und "Stand by II" des künstlerischen Langzeitprojekts "On Translation" von Antonio Muntadas. Sie sind Teil seiner Retrospektive "Espacios, Lugares, Situaciones" in der privaten Kulturstiftung der Fundación Botín in Santander, dem Ziel der Reise. Die 2005 und 2006 entstandenen Arbeiten zeigen genau die Warteschlangen, die sich weltweit vor Kinos, Museen, Ämtern oder auf Flughäfen bilden. In Muntadas Serien nivellieren sich die Umstände, unter denen es geschieht. Warten und Schlangestehen erscheinen als aus sich selbst heraus gültige menschliche Existenzweisen in der modernen, bürokratisch verwalteten Welt.

Deshalb übersetzten Muntadas Aufnahmen das Warten keineswegs in ein Naturereignis. Nein, sie erkennen in der Warteschlange ein äußerst ambivalentes Zivilisationsprodukt, das nur vordergründig unproduktiv, tatsächlich aber höchst effizient und daher von größter normativer Durchsetzungskraft ist. Sie erkennen im Anstehen ein Instrument politisch-administrativen oder ökonomischen Kalküls. Jenes Kalküls, dem der 1942 in Barcelona geborene Künstler seit seinen Anfängen in den 70er-Jahren auf der Spur ist.

Von Beginn an ging der mehrfache Biennale- und documenta-Teilnehmer in Venedig und Kassel dabei außerordentlich systematisch, ja geradezu bürokratisch vor und legte seine Projekte als Archive oder verweisende Karteisysteme an. In Spanien gilt Antonio Muntadas auch deshalb als Vaterfigur der jungen Künstler, die über den lokalen Raum und lokale Themen hinausdrängen, weil er, wenigstens zwanzig Jahre bevor die Kartografie als die große Entdeckung unter den neuesten künstlerischen Verfahren gefeiert wurde, schon das globale Territorium der modernen und postmodernen Öffentlichkeit visuell, statistisch und begrifflich-klassifikatorisch vermessen hat.

Das erste Projekt seiner "On Translation"-Serie etwa handelte von der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 in der finnischen Hauptstadt stattfand. Nun, dreißig Jahre später, in "On Translation Stand by I/II", konferieren wir nicht mehr - wir warten. Schon darin liegt eine brisante politische Aussage. Muntadas beobachtet uns in undefinierbaren Transiträumen, in denen wir - unsere Mobiltelefone am Ohr - mit abwesenden Gesprächspartnern kommunizieren. Und während wir uns in einer künstlich belüfteten und beleuchteten Hangararchitektur ständig zwischenparken, geht uns der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Arbeit und Freizeit und zu guter Letzt zwischen Freundschaft und Netzwerken verloren.

Stillgestellt sind wir ständig unterwegs. Wir hören zwar die ständigen Informationsansagen, aber wir verstehen sie nicht, wir schauen uns um, aber sehen nichts, wie Muntadas Videos "On Tranlation": Listening" (2005) und "On Translation: On View" (2004) pars pro toto zeigen. Deshalb entgeht uns auch, dass wir nicht mehr übersetzt, dafür aber überwacht werden.

Von den "Räumen, Orten und Situationen", wo dies geschieht, handelt die Ausstellung, die ihr Kurator Christopher Phillips als eine Retrospektive aus Arbeiten der letzten zehn Jahre angelegt hat. Das Bild der Ausstellung in den Räumen der Fundación Botín wirkt dabei selbst nicht weniger kühl und elegant als die Bilder der Fotoserien und Videofilme. Zum einen, weil die Ausstellungsräume der gleichen kühlen Architektursprache verpflichtet sind, wie sie die Empfangshallen und Konferenzräume in Muntadas Bildern zeigen. Zum anderen, weil Antonio Muntadas die ästhetische Form seines Gegenstands sehr bewusst in seinen Arbeiten wieder aufnimmt.

Er distanziert sich nicht vom Corporate Design der Welt, die er beobachtet. Schließlich erkennt er sie ja als universal gültig. Selbstsicher und entspannt vertraut er der eigenen Erfahrung im Umgang mit der sterilen Attraktivität des öffentlichen und halb öffentlichen Raums. Er weiß, sie ist zu uniform, um nicht - ganz ohne weiteres Zutun - kontraproduktiv zu werden, und Zweifel und Misstrauen zu schüren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.