Auch Bitten helfen nicht

AUS ROSTOCK HEIKE HAARHOFF

Am Nachmittag des 15. Juli 2005 zieht ein schweres Gewitter über der Ostsee herauf. Es ist kein Wetter zum Radfahren, nicht in leichter Sommerkleidung, und schon gar nicht über die Waldwege, die das Ostseebad Graal-Müritz mit der Gemeinde Gelbensande verbinden. Aber an diesem Nachmittag hat es Carolin Scholz, 16 Jahre alt, eilig, von zu Hause loszukommen.

Sie will Maxe, ihren Freund aus Gelbensande, mit dem sie sich am Abend zuvor gestritten hat, mit ihrem Besuch überraschen. Sie schlägt die Bedenken ihres Vaters in den Wind, sie will nicht warten, bis er oder die Mutter Zeit haben, sie wie üblich mit dem Auto zu Maxe zu bringen. Sie entgegnet dem Vater, wie lieb sie Maxe hat und wie wichtig es ist, dass sie sich jetzt mit ihm versöhnt.

Jörg Scholz tritt in den Zeugenstand des Landgerichts Rostock. Er ist 43 Jahre alt, er trägt Trauerkleidung, er sucht den Blick des Richters, er spricht leise: „Es gibt Situationen, da kann man als Vater seiner Tochter nichts mehr sagen.“

Carolin Scholz fuhr los mit ihrem Rad am Nachmittag des 15. Juli 2005. Bei Maxe ist sie nicht angekommen. Drei Tage später fanden Suchtrupps der Polizei das Mädchen tot im Wald – vergewaltigt und anschließend brutal erschlagen, vermutlich mit einem Stein oder einem anderen stumpfen Gegenstand, heißt es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, das Gesicht und der Schädel zur Unkenntlichkeit zertrümmert.

Wenn man bisher nicht darüber nachgedacht hatte, was das Schlimmste sei, das einem im Leben passieren könne, dann spürt man es in dem Prozess um das Verbrechen an der Schülerin Carolin Scholz aus Graal-Müritz: Es ist der grausame, sinnlose Tod des eigenen Kindes, gepaart mit Selbstvorwürfen und der Frage, was, wie und warum am Tatort geschah. Eine Frage, die für die Angehörigen von zentraler Bedeutung ist, erklärt deren Psychologin Ilona Kupey: „Nur wer weiß, was wirklich passiert ist, kann es verarbeiten. Ansonsten entwickelt man Fantasien, die das Geschehene möglicherweise übersteigern.“ Eine Frage, die weder die Kriminalpolizisten und Spurensicherer noch das Gericht trotz guter Spurenlage, zahlreicher Zeugenaussagen und großer Erfahrung beim Rekonstruieren von Tatvorgängen mit letzter Gewissheit klären können. Eine Frage, die nur der Täter beantworten kann.

Der Mann auf der Anklagebank schweigt. Mal senkt er den Blick, mal starrt er ins Leere, nie verrät sein Gesicht, was er denkt oder weiß. Aussagen zur Person ja, Angaben zur Sache nein, er bleibt dabei. Der Mann heißt Maik S., er kommt aus Gelbensande, ist 29 Jahre alt und mehrfach vorbestraft, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Hausfriedensbruch, Urkundenfälschung, Diebstahl, Raub. Eine Woche bevor Carolin ermordet wurde, wurde er aus dem Gefängnis entlassen nach sieben Jahren Haft – wegen Entführung und Vergewaltigung. Sein damaliges Opfer hatte Maik S. in der Nähe jener Stelle, wo Carolin starb, an einen Baum gefesselt. DNA-Spuren an und in Carolins Körper sowie an einer am Tatort gefundenen Zigarettenkippe und an einer Kordelschnur belasten ihn. „Jeder vernünftige Zweifel schweigt, dass ein anderer als er der Spurenleger gewesen sein könnte“, sagt der Rechtsmediziner.

Carolins Eltern und Bruder halten ihn für den Mörder. Die Rostocker Staatsanwaltschaft auch. Und, soweit man das so pauschal behaupten darf, das große Publikum aus Familie, Freunden und Fremden, die Anteil nehmen und sich seit voriger Woche an jedem Prozesstag wie eine stumme, vorwurfsvolle Interessengemeinschaft im Zuschauerraum einfinden, ebenfalls. Mehrere Zeugen haben beobachtet, wie Maik S. kurz nach Carolins Verschwinden immer wieder auf dem Rad in den Wald schlich und sich zu verstecken schien, sobald er in Sichtweite der Polizei geriet, die drei Tage lang den Wald durchkämmte.

Lebenslange Haft?

Einiges spricht dafür, dass der Vorsitzende Richter Guido Lex den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Eltern als Nebenkläger folgen wird und Maik S. heute zu lebenslanger Haft und, weil seine Tat besonders schwer wiegt und er für die Allgemeinheit gefährlich ist, zu anschließender Sicherungsverwahrung verurteilen wird. Sein Pflichtverteidiger mochte das Gericht lediglich um ein „weises“ Urteil bitten. Im Klartext: Es ist nicht ausgeschlossen, dass der 29-jährige Maik S. sein gesamtes restliches Leben eingesperrt bleibt.

Die Aussicht scheint ihn nicht zu beeindrucken. Er bestreitet nichts, gibt aber auch nichts zu. Kein Appell, keine Drohung, keine Bitte erreicht ihn.

Und so werden vor dem Rostocker Landgericht an drei langen Prozesstagen Indizien wie ein Puzzle zusammengetragen, wird das allmähliche, grausame Sterben eines Kindes mit mathematischer Genauigkeit von Gutachtern zu rekonstruieren versucht, soweit das möglich ist: wann, wo, wie oft, wie lange, mit welcher Intensität, bei vollem Bewusstsein oder nur eingeschränktem? Als der Rechtsmediziner seinen Befund verliest, als er die festgestellten Verletzungen referiert, die 21 Seiten füllen, bleibt von den Angehörigen einzig die Mutter im Saal.

Die Empörung und die Wut, die die Tat auch bei Unbeteiligten ausgelöst hat, kann man ausführlich in den Zuschriften auf der Internetseite nachlesen, die die Eltern zur Erinnerung an ihre Tochter angelegt haben (www.unsere-carolin.de). Man kann ihnen aber auch live zuhören, beispielsweise in den Prozesspausen in der Gerichtskantine: „Todesstrafe!“ Die Frau ist blond, Anfang 40 und sichtlich erregt. „Zu einfach“, mault eine Tischnachbarin, „der muss richtig gequält werden, täglich, bis an sein Lebensende!“ Eine dritte Frau mischt sich ins Gespräch ein: „Der hätte schon nach der ersten Vergewaltigung niemals aus dem Knast entlassen werden dürfen.“

Es sind Aufschreie, die man wohlwollend als Verzweiflung und kritisch als Populismus werten kann. Sie suggerieren, dass der Einzelfall die Norm sei und blenden aus, dass die Zahl der Sexualmorde in Deutschland zurückgeht. Dass nicht jeder, sondern etwa jeder fünfte Sexualstraftäter rückfällig wird, und dass das Strafgesetz seit 1998 kontinuierlich verschärft worden ist.

Doch die Aufschreie zeigen Wirkung: Der Justizminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat eine Bundesratsinitiative angekündigt, wonach Sicherungsverwahrung, also das Wegschließen auch nach Verbüßung der eigentlichen Haftstrafe, bereits bei Ersttätern angeordnet werden dürfen soll. Und nicht wie bislang erst bei Wiederholungstätern.

Hamburg, Hessen, Sachsen und Schleswig-Holstein haben Zustimmung signalisiert; Fachleute, die mit Sexualstraftätern arbeiten, bezweifeln den Erfolg einer solchen Maßnahme. „Sicherungsverwahrung allein wird das Problem nicht lösen“, sagt beispielsweise Guntram Knecht, der im Klinikum Nord in Hamburg die Forensische Abteilung leitet. „Sie ist extrem teuer, alle wegzusperren würde bedeuten, dass der Staat in wenigen Jahren finanziell am Ende wäre.“ Wichtiger sei, die psychiatrischen Gutachter, die die Gefährlichkeit von Tätern bewerten müssten, besser auszubilden, um Fehlprognosen zu vermeiden. Ferner bedürfe es einer verbesserten ambulanten Nachsorge, wenn die Täter aus der Haft entlassen würden.

Die Therapie brach er ab

Aber was soll man tun mit einem wie Maik S., dem angeboten wurde, seine während der Haft begonnene Gruppentherapie nach der Entlassung fortzusetzen und der diese Chance nicht wahrnahm? Was soll man tun mit einem, von dem der forensische Gutachter sagt, ein Hang zur Begehung schwerer Straftaten sei weiterhin gegeben und in seinem Fall seien rückblickend „alle therapeutischen Mühen fruchtlos“? Weil er nämlich durch sämtliche heute existierenden Therapieformen gar nicht erreichbar sei? Was soll man tun mit einem, der als Psychopath mit dissozialer Persönlichkeitsstörung eingestuft wird, zugleich aber als voll steuerungs- und schuldfähig? Was soll man tun mit einem, der zu all dem schweigt?

Man kann den Nebenkläger-Anwälten und dem Vorsitzenden Richter nicht vorwerfen, dass sie die Strategien der psychologischen Gesprächsführung nicht beherrschten, um Maik S. doch noch zum Reden zu bringen. Mal appellieren sie an sein Gewissen: „Sie würden den Eltern von Carolin sehr helfen!“ Mal herrschen sie ihn an: „Wir haben das Gefühl, Sie spielen hier mit uns!“ Mal suggerieren sie ihm, zu kooperieren liege in seinem eigenen Interesse: „Ein Geständnis könnte ein erster Schritt zur Rückkehr in die Gemeinschaft sein!“ Als auch das nicht fruchtet, probiert es der Richter mit Konfrontation. Er verliest das Urteil gegen Maik S. wegen seiner vorherigen Vergewaltigung, inklusive aller Details. Man möchte sich die Ohren zuhalten, man möchte rausrennen. Maik S. starrt und schweigt.

Schließlich hält es Carolins Vater nicht mehr aus. Er weiß, dass Maik S. selbst eine Tochter hat, neun Jahre ist sie alt. Er fleht den Angeklagten beinahe an, es ist ein Appell von Vater zu Vater: „Ich habe eine Riesenbitte an den Angeklagten. Er sollte wissen, was Eltern empfinden gegenüber ihren Töchtern.“ Die Stimme versagt ihm, er setzt noch einmal an, diesmal ist der Ton scharf: „Ich erwarte, dass er sich äußert: Was ist geschehen im Wald, was hat Carolin gesagt. Ich erwarte, dass er einmal Mut hat im Leben und eine Sache durchzieht!“

Da, endlich, steht auch Maik S. auf und schaltet das Saalmikrofon ein. Es ist das erste Mal im Prozess, dass er zu den Eltern herüberschaut. Es ist ein kurzer Blick, er ist weder mitfühlend noch berechnend, er ist schlicht unbeteiligt und dauert weniger als eine Minute. Maik S. sagt: „Ich möchte den Angehörigen von Carolin nur sagen, dass mir das Geschehene furchtbar leid tut.“ Der Richter wertet das als Geständnis. Maik S. kommentiert diese Einschätzung nicht.