Kommentar Cem Özdemir: Einer, der es geschafft hat

Özdemir wird als erster migrantischer Parteichef Deutschlands schon so etwas wie ein lebendes Denkmal sein. Dem linken Flügel bei den Grünen wird er aber eher schaden.

Wenn Cem Özdemir auf dem Grünen-Parteitag im November zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt wird, ist er der erste migrantische Parteivorsitzende Deutschlands. Das ist ein Zeichen, weit über grüne Parteikreise hinaus. Da ist einer, der hats geschafft. Das integrationspolitisch so rückständige Deutschland, dessen Bildungssystem seine Migranten systematisch ausgrenzt, hat einen "anatolischen Schwaben" - so dessen Eigenbezeichnung - ganz nach oben befördert. Özdemir wird bei seinem Amtsantritt schon so etwas wie ein lebendes Denkmal sein.

Wie stark Özdemir als Parteichef sein wird, hängt dagegen davon ab, wie schnell er sich im Hauptstadtklüngel zurechtfindet, dem er 2002 entflohen war. Dass er der Intrigenküche ein paar Jahre fern war und im EU-Parlament ganz andere Dimensionen von Politik kennengelernt hat, nutzt ihm gegenüber den Landesverbänden, gegenüber den Herren und Herrinnen der Berliner Seilschaften allerdings nicht. Grundsätzlich haben Parteichefs bei den Grünen in Regierungszeiten nichts und in Zeiten der Opposition nur ein bisschen was zu sagen.

Özdemirs Themenprofil ähnelt sehr dem von Claudia Roth, die sich im November als Co-Parteivorsitzende bestätigen lassen möchte. Die Grünen werden zwar einen sozialabbauwilligen Realo und eine klassische Linke in die Doppelspitze wählen. Inhaltlich aber werden sie eine Stereospitze bekommen: zwei Integrationspolitiker mit Türkeischwerpunkt, zwischen die politisch kaum ein Einbürgerungstest-Fragebogen passt. Das verschafft der Ökopartei ein neues Gesicht. In der öffentlichen Wahrnehmung bedeutet das auch eine Gewichtsverschiebung.

Gemessen an der Relevanz der Sache ist das ehrenwert. Doch ob die Grünen dadurch die zusätzlichen Stimmen ziehen, die sie 2009 brauchen werden, ist zweifelhaft. Denn mit Integrationspolitik werden in Deutschland keine Wahlen gewonnen. Das ist genau der Grund, warum alle anderen Parteien inklusive der Linkspartei sich darum so wenig scheren.

Claudia Roth und ihrem Linken-Flügel wird all dies allerdings eher schaden. Der Realo-Multikulti-Konsens-Kandidat Özdemir wird ihr die Schau stehlen - und der Linken ein Thema.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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