Debatte SPD: Viele Funktionäre sind zu alt

Kurt Becks trotziges Provinzlertum ist nicht das Problem. Die SPD steckt in einer psycho-demografischen Krise: Viele verklären die Amtszeit von Willy Brandt.

Als Willy Brandt 1964 zum Vorsitzenden der SPD gewählt wurde, zählte seine Partei 650.000 Mitglieder. 1973 waren von ihnen nur noch 300.000 übrig. Die anderen waren gestorben oder hatten, seltener, die Partei verlassen. Gleichzeitig jedoch verzeichneten die Sozialdemokraten zwischen 1964 und 1973 rund 670.000 Neueintritte. Die allermeisten waren junge Leute - und sehr viele von ihnen gehören der Partei heute noch an. Mittlerweile hat fast die Hälfte der noch gut 530.000 deutschen Sozialdemokraten das 60. Lebensjahr überschritten. Die "Generation Willy" ist alt geworden - und mit ihr die SPD insgesamt.

Kurt Becks trotziges Provinzlertum und die ungeklärten Personalfragen der SPD sind Oberflächenphänomene. Wer die Tiefendimension der heutigen Krise begreifen will, der tut gut daran, sich die dramatischen "Wachstumsprobleme" (Willy Brandt) vor Augen zu führen, mit der es die Partei vor vier Jahrzehnten unvermittelt zu tun bekam. Wohl niemals zuvor oder danach durchlief eine deutsche Partei einen so radikalen Umbruch ihres sozialen und kulturellen Profils wie die SPD in jenen Jahren. An die Stelle der genügsamen Facharbeiter und kleinen Angestellten traten urplötzlich scharenweise ungeduldige Aufsteiger. In teils rüden Verdrängungskonflikten setzte sich die breite demografische Kohorte des akademisierten Nachwuchses selbstbewusst durch. Die Neuen waren jung, sie waren viele, sie drängten auf Fortschritt, Erneuerung und Modernisierung. Ihre Zeit war gekommen.

"Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an", sagte Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969. Damit brachte er das geradezu amerikanisch anmutende Lebensgefühl einer ganzen Generation auf dem Punkt, die die Vergangenheit hinter sich ließ und zuversichtlich nach vorn blickte: "Yes, we can" auf Sozialdemokratisch. Im Rückblick zeigt sich: Die wenigen intensiven Jahre des sozialliberalen Aufbruchs zwischen Studentenrevolte und dem Ende der Brandtschen Kanzlerschaft sind zur mythisch verklärten Sehnsuchtsära vieler alt gewordenen Sozialdemokraten geworden. Zugleich bildet diese als geglückt empfundene Phase den Maßstab, an dem viele von ihnen seither die Wirklichkeit messen - und für defizitär befinden.

Warum auch nicht? Es waren ja tatsächlich dynamische Zeiten damals. Die junge westdeutsche Republik ließ die düstere Vergangenheit hinter sich und wandte sich energisch der weit offen vor ihr liegenden Zukunft zu. Sie gründete Familien und zog um ins Eigenheim. Die Leute fuhren mit dem fortschrittlichen VW K70 nach Schweden oder Frankreich statt mit dem rundlichen Opel Rekord in den Harz. Man träumte von Entspannung, Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie. "Die Welt war jung und Deutschland ein Wort", heißt es in Funny van Dannens Lied "Als Willy Brandt Bundeskanzler war". Präziser lässt sich das unbeschwerte Lebensgefühl der Nachwuchsgeneration, die damals Sozialdemokratie und westdeutsche Gesellschaft eroberte, kaum ausdrücken.

Aber der historische Augenblick des ungebremsten sozialdemokratischen Aufwärtsoptimismus war unglaublich kurz. Und es war auch keineswegs alles "golden". Bereits 1973 erlebte die Welt den ersten Ölpreisschock; zwei Jahre später überschritt die Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik die Millionengrenze. Der Technokrat Schmidt ersetzte den Charismatiker Brandt als Regierungschef; auf der Tagesordnung stand nun der Kampf gegen Stagflation und Terrorismus. "Unregierbarkeit" hieß das neue Schlagwort. Bereits die Bundestagswahlen von 1976 und 1980 gerieten zu zähen Abwehrschlachten gegen zunehmend angriffslustige Konservative, die Stück für Stück die gesellschaftliche Mitte zurückeroberten. Kaum gestartet, war das sozialdemokratische "Modell Deutschland" schon wieder ins Stottern geraten.

Aus heutiger Perspektive erscheint es fast unwirklich, dass Willy Brandt seiner Partei 1973 bescheinigte, ihr Problem liege im ungestümen Zustrom junger Menschen. Selbst wenn dies zweifellos zutraf: Inzwischen besteht das zentrale Problem der Parteien darin, dass sie zugleich altern und schrumpfen. Bei der SPD hängt beides eng zusammen: der optimistische Fortschrittsdrang vor vier Jahrzehnten und der miesepetrige Konservatismus vieler Funktionäre und Parteimitglieder heute. Gewiss, die sozialdemokratische Malaise der Gegenwart hat viele Gründe, auch objektive. Globalisierung, Klimawandel oder internationaler Terrorismus ziehen jedem Überschwang enge Grenzen - und das keineswegs bloß unter Sozialdemokraten.

Umso dringender - und zwar gerade wegen der Größe der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - müsste die SPD heute wieder anknüpfen an die Haltung des sozialdemokratischen "Yes, we can!", die sie um die Wende von den 60er- zu den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts auszeichnete. Genau das allerdings fällt ihr kraft Alterszusammensetzung und Gemütslage unendlich schwer. Denn Parteien sind immer auch Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften - und die SPD ist ganz besonders geprägt von der kollektiven Mentalität einer einzigen politischen Generation. Die Jungen von damals sind immer noch viele, aber sie sind längst nicht mehr jung. Und sie drängen auch nicht mehr auf Erneuerung und Modernisierung: "Das Beste war schon", finden sie. Exakt das macht die psycho-demografische Misere der deutschen Sozialdemokratie aus.

Viel hängt deshalb für die SPD davon ab, ob sie sich noch rechtzeitig von ihrer rückwärtsgewandten Fixierung auf jene knappe, als besonders glückhaft empfundene Zeitspanne lösen kann, die mittlerweile vier Jahrzehnte zurückliegt. Ihre in die Jahre gekommenen westdeutschen Kerntruppen und Funktionäre mögen dem vorwärtsgewandten Narrativ einer neuen sozialdemokratischen Politik für Lebens-, Aufstiegs- und Verwirklichungschancen nicht viel abgewinnen können. Paradox ist nur, dass sich der SPD in jüngerer Zeit neue Wähler geradezu aufdrängen, die ganz offensichtlich gerade nicht melancholische Nostalgie an die Wahlurne treibt.

Tatsächlich weht der Zeitgeist in Deutschland inzwischen wieder progressiv. In den jüngeren Gruppen unserer Gesellschaft wächst längst die Nachfrage nach einer modernen und dynamischen Interpretation sozialer Demokratie für das 21. Jahrhundert. Eine energische Politik der Aufstiegschancen für alle besäße heute beträchtliche Attraktivität; die Idee des vorsorgenden Investierens in Menschen und ihre Fähigkeiten genießt völlig zu Recht wachsende Zustimmung. Was fehlt, ist eine dazu passende kollektive Haltung der deutschen Sozialdemokratie. Als dynamische Partei des Fortschritts, der Emanzipation und der Erneuerung besitzt die SPD alle Chancen. Was den energischen Aufbruch nach vorn einstweilen verhindert, ist nicht zuletzt die miesepetrige Mentalität der zu Nostalgikern gewordenen Progressiven von einst. Auch das wird vergehen. TOBIAS DÜRR

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