Reporterlegende Gerd Ruge wird 80: Der Gerd ist eine Dampflokomotive

Gerd Ruge hat die Rollen des TV-Reporters und Korrespondenten mit definiert. Er berichtet stets über Menschen, nicht über Personalien. Am Samstag wird er 80.

+++ BREAKING NEWS: GERD RUGE WIRD 80 +++ Aber vorher hatte er noch Zeit für ein Gespräch. Bild: dpa

MÜNCHEN taz Der große alte Mann der TV-Reportage kramt hastig in seiner Jackettasche. Immer wieder, so als wüsste er einfach nicht, wohin mit seinen Händen. Vor kurzem hat Gerd Ruge mit dem Rauchen aufgehört, nach 60 Jahren Qualmerei. Zum Geburtstag hat das Team der "Sendung mit der Maus" einen kleinen Film über ihn gedreht, in dem heißt es ganz schlicht: "Der Gerd ist so was wie eine Dampflokomotive." So ist das mit Ruge: Selbst seine Zigaretten sind schon Legende.

Es wäre eine ziemliche Untertreibung, Gerd Ruge einfach nur als Fernsehreporter zu bezeichnen oder als Auslandskorrespondent. Ruge hat diese Rollen mit seiner Arbeit überhaupt erst definiert. Er war von 1956 an der erste westdeutsche Korrespondent in Moskau, berichtete Ende der 1960er-Jahre über Aufstieg und Fall der Bürgerrechtsbewegung in den USA, war in China, als Mao starb, und in Russland, als die Sowjetunion kollabierte. Über Politikerstatements und Koalitionen, den Kram, den Journalisten sonst so wichtig nehmen, berichtete er kaum. Viel lieber reiste er durchs Land und redete mit ganz normalen Menschen. Und am Ende hatten seine Zuschauer nicht bloß Personalien aus dem Politbüro vermeldet bekommen, sondern wirklich erfahren, was in einem Land vor sich geht, politisch und gesellschaftlich. Manchmal ging er auch über das Berichten hinaus. Anfang der 60er-Jahre gehörte Ruge zu den Gründern der deutschen Sektion von amnesty international. Er wollte endlich praktisch etwas für politische Gefangene tun. Am Samstag wird Gerd Ruge 80 Jahre alt. Der WDR zeigt dann sechseinhalb Stunden lang einige seiner besten Filme.

An diesem Morgen in München sieht Gerd Ruge eigentlich aus wie immer: grauer Vollbart, helle Hose, nur das berühmte blaue Hemd hat er gegen ein schwarzes Poloshirt eingetauscht. Gerade hat Ruge seine dritte Tageszeitung für heute durchblättert, und schon zur Begrüßung erklingt ein wohlig warmes Gerd-Ruge-Nuscheln.

"Als ich mit dem Journalismus anfing, hab ich gedacht: Das machst du ein Jahr, dann studierst du", erzählt Ruge und lacht. Daraus sind nun schon 60 geworden. Mit 16 war Ruge aus dem Krieg heimgekommen, mit nicht viel mehr Ausbildung als einem Notabitur. Die Nazis hatten ihn noch eingezogen, kämpfen musste er nie. Ruge schrieb danach für den Jugendfunk. Seine Beiträge waren so kritisch, dass sich die britischen Zensoren beschwerten und ihm die Redakteure beim noch jungen Rundfunk eine Chance gaben. Ruge fuhr mit 22 als erster westdeutscher Journalist nach Jugoslawien. Der Rest ist Legende.

Moskau, Washington, Martin Luther King, Adenauer, Boris Pasternak, Joan Baez bei ihrem ersten Konzert, Nikita Chruschtschow beim Kreml-Empfang - Gerd Ruge hat seine Anekdoten-Maschine angeworfen, hetzt von Ort zu Ort, von Name zu Name. Aber er wirkt dabei so überhaupt nicht selbstdarstellerisch. Wenn man ihn verwundert fragt, warum denn der mächtige Chruschtschow mit ihm, Ruge, auf einem großen Empfang geredet habe, dann meint er: "Der Chruschtschow langweilte sich eben."

Ein junger Mann kommt an den Tisch und ruft: "Sie sind doch der Gerd Ruge." Ruge gibt artig ein Autogramm und murmelt später: "Ich hab in Deutschland auch deshalb so wenig Filme gemacht, weil die Menschen dann immer gleich sagten, ,da kommt der Gerd Ruge. Da waren wir sofort in einer unnatürlichen Fernsehstudiosituation."

So arbeitete Ruge eigentlich immer dort, wo ihn niemand erkennt und er die Menschen auf der Straße einfach anreden kann. Und wo ihm der Sender nur wenig reinreden konnte. Bis ein Telefongespräch vom WDR in Köln zu Ruges Moskauer Büro vermittelt war, konnten in Sowjetzeiten zwei bis vier Stunden vergehen. Und als Ruges Team in Los Angeles den Mord an Robert Kennedy filmte, musste Ruge mit seinem Material erst nach Deutschland fliegen. "Die Entfernung war ein Segen", meint Ruge heute.

Der Beitrag über den Mord an Kennedy ist auch heute noch bewegend: Man sieht erst die fröhliche Wahlkampfparty, dann die Panik, den verwundeten Kennedy auf dem Boden und hört Ruge sagen: "Verzeihen Sie, wenn ich das alles nicht sehr geschliffen schildern kann, aber das ist alles noch wie ein Alptraum." Es hatte etwas Würdevolles. Heute würde man wohl ein "Breaking-News"-Laufband einblenden und eine überhastete Liveschalte zum Korrespondenten vor Ort machen. Für das Schildern und Erzählen, wie es Ruge beherrscht, ist im gestressten Fernsehjournalismus der Peter-Kloeppel-Ära nur noch wenig Platz.

Deswegen wirkt Ruge, wenn er über das Fernsehen von heute spricht, fast resignierter als bei Themen wie Demokratie in Russland oder Meinungsfreiheit in China. "Diese Talkshows" finde er besonders nervig. "Dieser Austausch von Meinungen nimmt viel zu viel Platz weg."

Solange es geht, wird Gerd Ruge herumreisen und seine Filme drehen. "Wenn ich nicht arbeiten würde, würde ich dasselbe machen: herumfahren und mit interessanten Menschen reden." Frau Ruge hatte also recht. "Als Rentner", hat sie einmal gesagt, "ist mein Mann ein ziemlicher Versager".

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