Ein Bett in Berlin (3): Ein Trampelpfad durch die Nacht

Wohin mag es einen verschlagen, wenn man versucht, eine Nacht in Berlin zu verbringen, ohne die Stadt zu kennen, ohne Freunde und ohne Geld? Der Selbstversuch führt an den Wannsee und aufs Polizeirevier.

Ein Dienstag im Sommer, abends kurz vor neun, Hauptbahnhof Berlin. Draußen regnet es. Nicht gerade der perfekte Tag, um im Freien zu nächtigen. Trotzdem: Es geht genau darum, diese Nacht zu überstehen - ohne die Stadt zu kennen, ohne Freunde, ohne Geld.

Es ist Sommer. Alle fahren in den Urlaub. Weg aus Berlin. Oder gerade dorthin. Denn längst ist Berlin zur Touristenstadt mutiert. Allein im Monat Mai übernachteten 728.300 Gäste in Berliner Herbergen. Die taz hat sich ihnen angeschlossen - und eine Reihe von Schlafplätzen in Berlin getestet.

In unserer Serie "Ein Bett in Berlin" berichten wir den Sommer über von knarzenden (oder gar keinen) Betten, Luxussuiten und den Menschen im Hotel.

In der Infozentrale am Bahnhof beginnt die Suche nach einem Schlafplatz. Werbebroschüren liegen dort aus. "Nichts wie raus zum Wannsee" steht auf einer. Die Sonne strahlt auf dem Bildchen daneben. Wie verlockend! Um 21.05 Uhr fährt ein Zug. Hoffentlich haben die Kontrolleure Feierabend.

Vor den Scheiben zieht die Stadt vorbei. Häuser, Menschen, Supermärkte, Regenschirme, Autos, Bars. Die S-Bahn rattert durch die Dämmerung. Ein Mann tippt etwas in seinen Laptop, ein Koreaner parliert gestenreich, eine Frau löst Kreuzworträtsel. Jedes Mal, wenn sie etwas einträgt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. In diesem Moment fühle ich mich geborgen.

Am Bahnhof Nikolassee steige ich aus. An der Bushaltestelle steht ein Radfahrer. Er weiß auch nicht, wo man hier entspannt oder wenigstens sicher schlafen kann, und guckt skeptisch - erst auf mich, dann auf die Wolken über mir. "Hier streunern nachts immer ein paar Penner herum. Machs nicht zu einsam", rät er.

Eine Karte im Bushaltestellenhäuschen gibt Orientierung. Der Weg zum Strandbad Wannsee führt über die Autobahn, vorbei am verrammelten Imbisswagen "Easy Rider", hinein in eine dunkle Allee. Auf der rechten Seite werfen alte Straßenlaternen ein mattes Licht auf den feuchten Asphalt. Aus dem Wald kommt ein Grunzen - Wildschweine. Es tröpfelt.

Von hinten rast ein Auto heran. Grelle Xeon-Scheinwerfer, die Fenster getönt, ein schwarzer BMW. Und gleich dahinter ein Mercedes. Und noch eine Limousine. Merkwürdig. Die Straße ist eine Sackgasse, sie führt nur nach Schwanenwerder, auf ein kleines Eiland.

Vor der Inselbrücke geht ein steiniger Uferweg nach rechts ab. Die Bäume stehen hoch und dunkel auf beiden Seiten. Eine unheimliche Gasse ist es, ein Trampelpfad in die Nacht. Dann öffnet sich eine Lichtung. Wie aus dem Nichts liegt das Havel-Panorama vor mir. Mit Sandstrand. Mit Wasser. Mit Himmel. Fast wie auf dem Werbefoto - nur ohne Sonne und Segelschiffchen.

Havel-Panorama inklusive

Hier bleibe ich. Etwa 20 Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt, ohne Fernseher, ohne Nachttischlampe, ohne Kopfkissen. An die Menschheit erinnert nur eine leere Schachtel Marlboro Gold, die halb aus dem Sand ragt. Und der Lichtsmog am Horizont - Berlin.

Ich trete Spuren in den nassen Sand. Bevor ich den Schlafsack unter einem großen Baum ausrolle, pflüge ich die trockenen Körner mit den Schuhen an die Oberfläche.

Kurz nach elf muss es sein, da nähern sich Stimmen. Zwei Gestalten, kaum wahrnehmbar, huschen auf dem Weg vorbei. Plötzlich verstummen sie. Haben sie den Schlafsack entdeckt? Wer könnte sich hierher verirren? Um diese Uhrzeit an diesen versteckten Ort? Aber die Schritte entfernen sich, das Klacken verhallt. Zu hören sind nur die Wellen. Und die Windböen, die die Blätter zum Rauschen bringen. Der Himmel spiegelt sich im See, der Wald verdichtet sich in Schwärze.

Farbe! Das Nächste, was ich sehe, ist Farbe. Der Sand strahlt beige, die Bäume grün, im Westen schimmert die Sonne golden zwischen dem Ufergehölz. Die klamme Kälte kriecht zu mir in den Schlafsack. Ich rolle mich zusammen. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Ich habe geschlafen, fast sieben Stunden lang. Durch die Büsche beobachte ich die aufgehende Sonne. Ich kann nicht mehr einnicken, will noch nicht aufstehen.

Dann rapple ich mich doch auf. Mein Nacken ist steif. Liegestütze, Sprünge, Kniebeugen helfen. Ich gehe zum Ufer. Das Wasser schlägt grün an die Sandbank. Der See ist nach den ersten heißen Sommertagen voller Algen. Ein leicht fauliger Geruch steigt auf. Doch vier Meter vom Ufer wird das Wasser klarer. Welch eine Wonne!

Drei Schwäne lassen sich treiben, Wasservögel kreisen, eine Entenfamilie schwimmt auf mich zu. Als würde es mich nicht bemerken, kommt ein Junges immer näher, 30 Zentimeter, 20 Zentimeter, eine Handbreit. Ich scheine sie nicht zu stören, die Natur, so wie ich dasitze, leicht zitternd, gerade richtig erwachend.

Plötzlich ist da der Gedanke an Frühstück: Tee und Croissant. Über die Brücke trete ich auf die Insel Schwanenwerder. Ein untersetzter Mann parkt gerade seinen Straßenkreuzer mit Münchner Kennzeichen. Leider hat er keine Semmel für mich. Er empfiehlt die Evangelische Bildungsstätte.

Warum nicht? Eine Einbahnstraße führt zwischen den Zäunen der herrschaftlichen Anwesen hindurch. Auf der linken Seite wird gebaut. Raupen, Kräne, Bagger - hier entstehen moderne Villen mit Seeblick.

"Wir sind kein Hostel, wir sind eine Bildungsstätte", enttäuscht mich die Dame an der Rezeption. Leider gebe es derzeit weder Gäste noch Frühstück, sagt sie. Ich glaube ihr nicht. Aber ich gebe nicht auf. Auf dieser dekadenten Insel wird sich doch etwas zum Essen finden lassen.

Da, die Wasserschutzpolizei. Über die Gegensprechanlage meldet sich ein Polizist: "Wir haben ein Glas Wasser." Vielleicht hofft er, dass sich das wenig attraktiv anhört. "Super, das nehme ich", versichere ich schnell. Er antwortet nicht. Zehn Sekunden später kommt eine kleine Frau zum Tor, schließt auf und bittet mich herein. Eine Pistole steckt in ihrem Gürtel. Die Geschichte von der Nacht am Wannsee, vom Versuch, sich ohne Geld durchzuschlagen. "Können Sie sich ausweisen?", fragt sie misstrauisch. Ich bejahe, da hat sie ihre Frage schon vergessen. Sie wendet sich an ihren Chef: "Soll ich ihn verköstigen?"

Die Wände sind kahl, der Fußboden grau, 70er-Jahre eben. Die Polizeistation soll geschlossen werden, erzählt die Frau, während sie mein Frühstück auftischt. Marmelade, Nutella, Schinken, rote Wurst, Gouda, Margarine und eine Plastiktüte voller Brötchen. Dazu Kaffee und Milch. Welch staatliches Büfett!

Nur das Messer ist stumpf. Vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme. Die Polizistin setzt sich zu mir an den Tisch. "So etwas habe ich auch noch nicht erlebt", sagt sie. Ich auch nicht, könnte ich antworten, schiebe mir aber lieber das Brot in den Mund. Die Kälte schwindet, mein Hunger, ihr Misstrauen. Selten schmeckte eine labbrige Schrippe so gut.

Frühstück unter Aufsicht

Die Polizistin erzählt von Tag- und Nachtschichten, von Einsätzen auf dem Wasser, von den Kontrollen der Angler. Ich schnappe mir das zweite Brötchen. Wieder mit Marmelade. Jetzt redet die Schutzfrau über Papierkram, Akten, Schießtraining. Ich kaue. Zwischendurch stelle ich ein paar Fragen, das Gespräch schleppt sich hin. Die Polizistin muss bei mir sitzen, als Aufsicht. Das ist Vorschrift so.

"Wir machen gleich eine Übung", verkündet ihr Chef und fügt - nicht ohne Stolz in der Stimme - hinzu: "eine große Übung sogar!" Seine Kollegin räumt das Frühstück ab und führt mich zum Ausgang. Herzlich sagt sie: "Auf Wiedersehen."

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