Leben mit dem Borderline-Syndrom: Vom Leben geschnitten

Lea ist 40 und verletzlich wie ein Kind. Sie leidet an der Borderline-Persönlichkeitsstörung, schlitzt sich die Haut auf, wenn der seelische Schmerz zu groß wird.

"Alle werden immer geliebt. Nur ich werde immer gehasst." : photocase

In Deutschland leiden etwa 2 Prozent der Bevölkerung an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, überwiegend Frauen. Forscher vermuten, dass Frauen statistisch nur besser erfasst werden, weil sie ihre Wut gegen sich selbst richten und häufig in Kliniken eingeliefert werden. Männliche Borderliner werden eher gewalttätig gegen andere, also ein Fall für die Justiz. Auch der Schweizer Autorin Sibylle Berg scheinen Selbstverletzungen nicht unbekannt zu sein. Auf ihrer Homepage heißt es in der Rubrik "Sybille Bergs Leben - bitte nie mehr fragen, einfach abschreiben": "Nein, Frau Berg hat keine Depressionen. Nein, es fand kein Selbstmordversuch statt. (Und was sind das für lange Schnitte an Ihrem Arm? Och, das war ein Fahrradunfall)."

BERLIN taz Am Telefon klingt Leas Stimme langsam und bedächtig. Sich zu treffen und über ihre Krankheit zu sprechen, das sei kein Problem. Allerdings werde sie ein Päckchen Rasierklingen dabei haben, so wie immer. "Die Klingen brauche ich für meine Sicherheit. Irgendwann werde ich einfach schneiden müssen."

Tage später sitzt sie auf der zugigen Terrasse eines Fastfoodrestaurants, trotz Nieselwetters trägt sie ein kurzärmeliges T-Shirt. "Sollen doch ruhig alle wissen, dass ich seelisch kaputt bin", sagt sie. Es klingt trotzig. Ihre Arme, Beine und ihr Bauch sind übersät mit tief in die Haut gekerbten Wunden.

Lea kann nicht aufhören, sich die Haut aufzuschlitzen. Meistens treten Selbstverletzungen durch Rasierklingen oder brennende Zigaretten während der Pubertät auf, wenn die eigene Identität im Chaos versinkt. Es ist für die Betroffenen eine Lösungsstrategie, um mit Leistungsdruck und familiären Problemen zurechtzukommen. Bei einigen Jugendlichen verschwinden die Symptome von alleine, andere benötigen eine Therapie - wie Lea. Sie leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS).

Lea ist 40 Jahre alt, wirkt aber um mindestens 15 Jahre jünger. Vielleicht liegt es an ihrem zarten Gesicht mit den großen dunklen Augen, das sie halb unter einer Schirmmütze versteckt. Vielleicht liegt es daran, dass sie nie richtig erwachsen geworden ist. Sie wirkt wie ein verletzliches Kind, wenn sie erzählt, dass die Welt gar nichts für sie sei und sie sich immer unendlich leer fühle, "so richtig beschissen eben". Um ihrer Mutter nicht noch mehr Sorgen zu bereiten, versucht sie sich von den Rasierklingen fernzuhalten. Ihre eigenen Schmerzen interessieren Lea dagegen wenig. Selbsthass ist bei ihr kein vorübergehendes Problem, sondern eine tief verwurzelte, chronische Krankheit.

Stimmungsschwankungen, Impulsivität, instabile Beziehungen und Suizidgedanken sind die wichtigsten Symptome, die für eine Borderline-Diagnose aus psychiatrischer Sicht erfüllt sein müssen. Doch wie fühlen sich diese theoretischen Beschreibungen tatsächlich an? Und wann ist der schmale Grat zwischen "gesund" und "krank" überschritten?

"Generell sind alle Gefühlslagen eines Borderliners auch Teil der Psyche eines gesunden Menschen", sagt Dr. Stefan Röpke, Oberarzt der Spezialstation für Borderline-Patienten an der Klinik für Psychiatrie der Charité Berlin: "So hat sich jeder schon extrem leer oder verlassen gefühlt. Auch an einen Selbstmord denken Menschen in Ausnahmefällen." Im Gegensatz zu gesunden Menschen würden Borderliner jedoch in der Intensität ihres Fühlens und Handelns eine Grenze überschreiten. "Die Heftigkeit ihrer Reaktion steht nicht im Verhältnis zur realen Situation. Irgendwo ist da ein Zuviel."

Viele Borderliner sind schwer depressiv, ihre Krankheit macht ein normales Leben fast unmöglich. So sprach der US-Kinderpsychologe Jonathan Kellermann von seinen schwersttraumatisierten Patienten als Menschen "mit Armen zusammengenäht wie Fußbälle und psychischen Wunden, die nie geheilt werden können." Ihr Ego sei "fragil wie gesponnener Zucker" und ihre Psyche "fragmentiert wie ein Mosaik, bei dem die wichtigsten Teile fehlen". Röpkes Definition der BPS klingt nicht ganz so drastisch wie Kellermanns Äußerungen, macht aber einen entscheidenden Punkt deutlich: "Borderliner haben immer Angst, verlassen zu werden."

Lea schnitt sich die Arme kaputt, als eine Partybekanntschaft, mit der sie am Vorabend Telefonnummern getauscht hatte, nicht auf eine SMS reagierte, in der sie nach einem Treffen gefragt hatte. Objektiv betrachtet hatte der fast Unbekannte keinerlei Einfluss auf ihr Leben, ein trotziges "Dann eben nicht" wäre die angemessene Reaktion gewesen. Lea empfand das Desinteresse aber als existenziell, ihr ganzes Ich klappte zusammen - wie schon so oft. Als sie von ihrer Freundin verlassen wurde, trank sie literweise Wein und schnitt so tief, dass die Sehnen frei lagen. Nur Stunden später folgte der nächste Exzess. Sie wachte nachts auf, schnitt los, ohne überhaupt hinzusehen. Nur durch die Wunden konnte sie sich beruhigen.

Den Verlust einer Bezugsperson erlebte Lea als Sturz durch eine Falltür: "Es ist, als ob der Schmerz meines ganzen Lebens in diesem Moment zentriert auf mich einwirken würde." Schmerz ist eine der wenigen Konstanten im Leben eines Borderliners, viele von ihnen wurden vernachlässigt, missbraucht, vergewaltigt. Auch Leas Gefühl fürs eigene Ich wurde bereits in der Kindheit nachhaltig zerstört. Hinzu kommt bei BPS-Patienten vermutlich eine genetische Disposition, also eine von Geburt an erhöhte emotionale Impulsivität. Leas Denken ist oft polarisiert: "Alle werden immer geliebt. Nur ich werde immer gehasst."

Im Herbst beginnt sie an der Charité ein dreimonatiges Behandlungsprogramm nach der dialektisch-behavioralen Therapie, die von der amerikanischen Psychiaterin Marsha Linehan entwickelt wurde und speziell auf Borderliner ausgerichtet ist. Die Patienten lernen dabei, ihre Gefühle zunächst einmal wahrzunehmen und auch zu respektieren. "Die meisten Borderliner haben dies nie gelernt, in ihren Familien wurden kindliche Gefühlsäußerungen nicht beachtet", sagt Röpke. Stattdessen seien sie durch Äußerungen wie "Stell dich nicht so an" oder "Du lügst" abgekanzelt worden.

Das Ziel der Therapie ist es, das destruktive Schneiden durch andere Verhaltensweisen zu ersetzen, "alternative Skills" zu entwickeln, wie Röpke sagt: "Erst wenn die Patienten sich nicht mehr verletzen, ist überhaupt die Möglichkeit gegeben, an den Ursachen der Probleme konstruktiv zu arbeiten." Eine Möglichkeit für die Betroffenen etwa ist, sich im Moment der größten inneren Spannung ein Tuch mit Ammoniak unter die Nase zu halten, um durch den ätzenden Geruch wieder zu sich zu kommen. In Krisensituationen griff Lea bisher fast immer zur Klinge oder zum Alkohol. Vor allem, wenn sie kaum noch anwesend ist, weil sie stark dissoziiert, einen Teil ihrer Psyche von sich abspaltet: "Das Schneiden ist durch nichts zu ersetzen. Nur dadurch kann ich die schwarzen emotionalen Löcher überleben."

"Eine vollständige Heilungschance für die BPS gibt es nur bedingt", sagt Röpke, "die Patienten bleiben ihr Leben lang labil und unsicher in zwischenmenschlichen Kontakten." Jedoch könnten die Symptome durch eine jahrelange Therapie deutlich verbessert werden. Die biologische Entwicklung steuere der Krankheit zudem entgegen, mit zunehmendem Alter würden viele der Patienten ruhiger.

Lea glaubt nicht, dass sie jemals wirklich gesund werden wird. Eine latent nervöse Spannung umgibt die zierliche Frau, die manchmal weinerlich wird und Sätze sagt wie "Ich weiß mit mir gar nichts anzufangen" und "Ich habe Angst, dass ich eines Tages so tief schneide, dass ich verblute".

Seit 2003 ist die gelernte Erzieherin in Frührente. Über 20-mal wurde sie schon in die Psychiatrie eingeliefert, weil sie sich mit ihren Freunden gestritten hatte, weil es Ärger im Beruf gegeben hatte, weil sie ausgerastet war und den vollbeladenen Essenstisch vor Wut umgekippt hatte. Oder weil sie ihre innere Leere nicht mehr ausgehalten hatte, die sie durch unzählige schnell eingegangene und ebenso schnell wieder zertrümmerte Affären zu füllen sucht.

Fünf stationäre und unzählige ambulante Therapien hat sie begonnen - und nur wenige durchgehalten. Die nie aufhörenden Krisen stürzen Leas Leben immer wieder ins Chaos. Mit dem dialektisch-behavioralen Therapieprogramm wird nun ein weiterer Versuch unternommen, ihr zu helfen. Vielleicht wird Lea am Ende verstanden haben, dass Trennungen sich zwar lebensbedrohlich anfühlen, es jedoch letztlich nicht sind.

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