Vor Urteil gegen Eltern von Lea-Sophie: Ein tödlicher Rückzug

Am Dienstag fällt das Urteil gegen die Eltern von Lea-Sophie. Das Mädchen starb 2007 als Folge von Unterernährung. Als sie Essen verweigerte, blieben die Eltern tatenlos.

Das Grab der fünfjährigen Lea-Sophie auf dem Waldfriedhof in Schwerin. Bild: ap

Das Auffälligste an ihnen ist ihr Bemühen um Unauffälligkeit. Wenn Nicole G. hinter der Reihe der Anwälte zu ihrem Platz geht, muss niemand seinen Stuhl nach vorne rücken. Stefan T. bleibt wie ein Kind vor dem Justizbeamten stehen, der ihm die Handschellen abgenommen hat. "Geh'", sagt der Gerichtsdiener, und Stefan T. geht. Nicole G. und Stefan T. sind wegen Mordes an ihrer fünfjährigen Tochter Lea-Sophie angeklagt. Das Kind war im November letzten Jahres in einer Klinik an den Folgen seiner Unterernährung gestorben. Es wog 7,4 Kilogramm. Normal wäre das Dreifache gewesen.

Das Landgericht in Schwerin soll herausfinden, was in dem halben Jahr passiert sein mag, in dem niemand außer den Eltern das Kind gesehen hat. Wie es geschehen konnte, dass der Bruder, ein Säugling, in bester Verfassung war, die vielen Hunde, Meerschweinchen und Lurche wohlgenährt, während die Durchliegegeschwüre der Tochter bis auf die Knochen reichten. Wie es dazu kommen konnte, dass der Vater den Rettungssanitäter begrüßte, indem er die Schuld dem Kind gab, das nach der Geburt des Bruders das Essen verweigert hatte: "Sie hat uns schon seit Wochen geärgert". Während der ersten Prozesstage haben die Angeklagten, 24 und 26 Jahre alt, geschwiegen, sie haben einen niedrigen Punkt auf der Holzvertäfelung gegenüber angesehen. Nicole G. hält sich sehr aufrecht, sie trägt Schwarz und zerknüllt ein Papiertaschentuch in der Hand, während Stefan T. reglos ist, nur sein Kiefer mahlt.

An ihr, der Mutter, ist das Interesse der Fotografen und Kamerateams spürbar größer. Nicht nur, weil sie die Bezugsperson des Kindes war, wie ihr Lebensgefährte früh betont hat. Sondern weil in den Augen der Außenwelt eine Mutter, die ihr Kind verhungern lässt, unvorstellbarer, monströser zu sein scheint als ein Vater, der dasselbe tut. Und weil sie ein Ideal von sich als Mutter hatte, das sich schließlich in sein Gegenteil verkehrt hat.

Nun hört sie zu, wie die Rettungssanitäter, Ärzte und Krankenschwestern beschreiben, wie sie das Kind antrafen. Stefan T. hatte am 20. November 2007 den Notarzt gerufen, weil sie Lea-Sophie leblos auf ihrem Stuhl vorfanden, so ihre Aussage. Die Sanitäter waren überrascht von der Teilnahmslosigkeit der Eltern, der Adrettheit des rosafarbenen Kinderzimmers und entsetzt über den Zustand des Kindes.

Der Gerichtsmediziner wird später sagen, dass vergleichbare Fälle nur in Hungergebieten in Entwicklungsländern zu finden seien. Lea-Sophie habe greisenhaft ausgesehen, weil das Unterfettgewebe auch im Gesicht fehlte, das Haar war ihr ausgefallen. Ihr Bauch und die Beine waren kotverschmutzt, die Arme und Beine wegen Muskelverkümmerung kontrahiert, weshalb der Gutachter glaubt, dass das Kind "lange Zeit sehr ruhig in sitzender oder hockender Haltung verbracht haben muss".

Norbert G., der Vater von Nicole G., ein kleiner, energischer Mann, sitzt jeden Prozesstag in der letzten Reihe. Vor den Pausen kommt er zur Tür, um sie zu umarmen und sie drängt sich, meist schon mit Handschellen, an ihn. Als Zeuge sagt er über sie: "Sie hatte wenig Selbstbewusstsein und Angst, es anderen auch recht zu machen" und berichtet über ein Leben, das "immer ein bisschen behütet war". So behütet, dass manchmal nicht viel eigenes Leben übrig blieb.

Nicole G. ist das Kind von Norbert G.'s Bruder; ihre Mutter sagte nach der Geburt zum Ehepaar G.: "Ich habe schon so viele, es wird mir zu viel. Ihr könnt eines haben". Nicole G. erfährt durch Zufall von ihrer Großmutter, dass sie ein Adoptivkind ist. "Wir haben den richtigen Zeitpunkt verpasst, es ihr zu sagen", sagt Norbert G. dazu und damit wählt er die gleichen Worte wie die Angeklagten, wenn sie gefragt werden, warum sie mit ihrer Tochter nicht zum Arzt gingen. Ihre leiblichen Eltern hat Nicole G. nur einmal gesehen, damals hielt sie sie für Bekannte.

Es scheint, als habe Nicole G. sich nur einmal nicht gefügt. Als sie ihre Lehre als Bürokauffrau abbricht, um sich ganz um ihre Tochter zu kümmern. Um mit Stefan T. eine eigene Familie zu haben. Obwohl der seinen Dienst als Zeitsoldat quittiert und nach Schwerin zurückkehrt, verbringt Lea-Sophie ihr erstes Lebensjahr bei den Großeltern. Erst als die Eltern hören, wie sie den Großvater "Papa" nennt, werden sie energischer in ihrer Forderung, das Kind zu sich zu holen. Stefan T. sucht sich dennoch keine Arbeit, Geld kommt vom Sozialamt und von den Großeltern. Von ihnen kommt auch selbst gekochtes Essen und Kritik an Stefan T., der ihnen zu streng mit dem Kind ist. Nicole G. hält mal zu der einen, mal zu der anderen Seite.

"Sie glaubte, sie allein habe alles, was ihr Kind brauche", wird der Gutachter über sie sagen, und dass sie ihr geringes Selbstwertgefühl über ihre Rolle als Mutter habe stützen wollen. Ganz anders als ihre leibliche Mutter, die sie weggab, weil es ihr zu viel wurde mit all den Kindern. Die, so könnte man sagen, damals rechtzeitig die Notbremse zog. Um später, nachdem sich der Vater das Leben genommen hatte, einfach zu verschwinden.

Nicole G. und Stefan T. verwenden viel Kraft darauf, sich von den Großeltern G. abzugrenzen, die bei Leas Auszug sagen, dass das Kind, sobald es selbst entscheiden könne, zu ihnen zurückkommen werde. Die Eltern melden das Kind aus dem Kindergarten ab, weil sie ein Komplott mit der Leiterin vermuten. Sie gehen nicht zum Kinderarzt. Zweimal erscheint Norbert G. beim Jugendamt. Er findet seine Enkelin zu dünn und zu klein für ihr Alter. Er möchte wissen, ob sie, wie von den Eltern behauptet, tatsächlich wieder in einem Kindergarten angemeldet sei. Das Jugendamt fragt ihn, ob das Kindeswohl bedroht sei, erst dann könne man etwas tun. Norbert G. sagt aus, dass er seine hochschwangere Tochter nicht belasten wollte. Als Nicole G. und Stefan T. vom Besuch beim Jugendamt erfahren, ziehen sie sich noch weiter zurück. Schließlich stellen sie sogar die Klingel ab; Freunde haben sie ohnehin nicht.

Am sechsten Prozesstag räumen Nicole G. und Stefan T. ein, um den lebensbedrohlichen Zustand ihrer Tochter gewusst zu haben. Zum Arzt seien sie nicht gegangen, weil sie fürchteten, man würde ihnen beide Kinder wegnehmen. Nicole G.'s Anwalt stellt ihr Fragen und sie antwortet mit ihrer leisen, freundlichen Stimme: Sie habe Lea-Sophie geliebt. "Sie war ein ganz, ganz liebes Kind". Alles sei normal gewesen: "Sie hat normal gegessen, normal getrunken, gespielt". Sie hätten Ausflüge zusammen gemacht, die Enten gefüttert. Lea-Sophie habe die Hunde sehr gemocht.

Aber als das Kind nach der Geburt des Bruders streikte, Schränke ausräumte und die Nahrung verweigerte, war sie nicht länger Bestätigung, sondern Bedrohung. Ein Kind, das sich verweigert, so mag es Nicole G. erschienen sein, verweist auf eine hilflose, überforderte Mutter. Und statt sich die Überforderung einzugestehen, opferte sie das Kind.

Fragt man Kinderpsychiater nach vergleichbaren Fällen, schütteln sie den Kopf. Es gibt keine vergleichbaren Fälle, weil in der Regel Hilfe geholt wird. Es sei nicht ungewöhnlich, dass ein Kind nicht esse, zudem vergehe nach drei Tagen das Hungergefühl. Ungewöhnlich, so sagen die Kinderpsychiater, sei nur die Reaktion der Eltern.

Nicole G. und Stefan T. wollen Lea-Sophie ermahnt haben, vernünftig zu sein, zu essen. Sie haben Traubenzuckerlösung in einen Becher in ihr Zimmer gestellt. Sie redeten sich ein, dass es am nächsten Tag besser würde. Aber irgendwann muss dieses Kind für sie aufgehört haben zu existieren. Stefan T. sagt, dass er sich an den Anblick des abgemagerten Kindes gewöhnt habe. Er habe auch nicht mehr so oft ins Kinderzimmer gesehen.

Der psychiatrische Sachverständige wird erklären, dass Stefan T. Konflikte meide, auf Kritik mit Rückzug reagiere. Dass er paranoide, schizophrene und selbstunsichere Persönlichkeitsanteile habe. Dass er dennoch vollständig schuldfähig sei. Und dass Stefan T. vielleicht nie auffällig geworden wäre, wenn er Berufssoldat bei der Bundeswehr und kinderlos geblieben wäre. Lebhaft soll er im Gespräch mit dem Psychiater nur einmal geworden sein: Als er erzählte, wie ihn Mitschüler wegen seines Ticks, eines Augenzwinkerns, verspotteten. Norbert G. sagt, dass seine Tochter immer wieder überlegt habe, sich von Stefan T. zu trennen, der Playstation spielte, statt ihr im Hauhalt und mit den Kindern zu helfen.

Nach einer Anzeige aus der Nachbarschaft, in der es heißt, dass man den Säugling kaum draußen sehe, klingelt das Jugendamt acht Tage vor Lea-Sophies Tod an der Haustür von Nicole G. und Stefan T. Vergeblich. Vermutlich war das Kind allein zu Hause. Am nächsten Tag erscheinen Nicole G. und Stefan T. mit dem Sohn. Lea-Sophie gehe es gut, versichern sie. Man werde sie bald dem Jugendamt vorstellen.

Der Staatsanwalt fordert in seinem Plädoyer für beide Angeklagten 13 Jahre Haft wegen Mordes durch Unterlassen. Sie seien, anders als in vielen ähnlichen Fällen von Kindstötung, in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die Verteidiger plädieren auf Totschlag durch Unterlassen und fordern jeweils acht Jahre Haft. Das Urteil wird am Mittwoch gefällt.

Justin, der Bruder von Lea-Sophie, lebt jetzt bei den Großeltern G.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.