Debatte Konservative Mehrheit am US-Gerichtshof: Bastion des Konservatismus

Auch nach einem Wahlsieg von Barack Obama wird es für einen Politikwechsel schwer. Konservative Richter im Obersten US-Gericht können wichtige Reformen behindern.

Im amerikanischen Präsidenten-Wahlkampf schwillt der Chor der "Yes, we can"-Enthusiasten gegenwärtig mächtig an. Was Barack Obama als "change" verspricht, mag inhaltlich wolkig sein. Eindeutig hingegen ist, wogegen sich der Schlachtruf richtet. Mit der aggressiven, die Welt in Gut und Böse spaltenden, stets das große Geld begünstigenden, den Armen und der afroamerikanischen Minderheit aber feindlich gesinnten Politik George W. Bushs soll Schluss sein.

Unter den erwartbaren Hindernissen, die im Fall von Obamas Sieg jeder Art von Politikwechsel entgegenstehen, ist die gegenwärtige konservative Mehrheit im Obersten Gerichtshof, dem Supreme Court, sicher das am schwierigsten zu bewältigende. Denn selbst bei einer Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses könnten wichtige Reformvorhaben - vor allem in der Innenpolitik - an der Hürde des Supreme Court scheitern.

Institutionell verfügt der Oberste Gerichtshof der USA über eine Machtfülle, die dem europäischen Verfassungsdenken bis vor kurzer Zeit fremd war. Die neun Richter des Supreme Court werden, wie auch die unteren Bundesrichter der ersten und zweiten Instanz, vom Präsidenten vorgeschlagen, vom Senat geprüft, gewählt und schließlich vom Präsidenten ernannt. Das ganze Prüfungsverfahren findet unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit statt; jede Rechtsmeinung, jede politische Ansicht des Kandidaten wird hin und her gewendet.

Die Obersten Richter amtieren auf Lebenszeit, im Schnitt 24 Jahre. Obwohl theoretisch ein Verfahren zum "Impeachment" existiert, sind sie praktisch unabsetzbar. Das Gericht ist einmal Revisionsinstanz, dann aber auch zuständig, um über die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen wie Gesetzen der Einzelstaaten zu urteilen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist nach dem Vorbild des Supreme Court modelliert, ohne über dessen Befugnisse und Prestige zu verfügen.

Den gegenwärtigen Supreme Court als Bastion des Konservativismus zu charakterisieren, mag auf den ersten Blick überraschend klingen. Hat nicht erst vor kurzem der Supreme Court erneut geurteilt, den Internierten von Guantánamo stünde das Recht auf richterliche Nachprüfung der Haftgründe durch ein ordentliches Bundesgericht der USA zu (Habeas Corpus)? Verhalf nicht ein Richter, Anthony Kennedy, der generell dem konservativen Lager zugeordnet wurde, den liberalen Richtern in diesem Fall zu einer 5-zu-4-Mehrheit? Und hat nicht derselbe Richter vor wenigen Wochen die liberale Mehrheitsmeinung (ebenfalls 5 zu 4) begründet, wonach es unzulässig sei, den Kindesmissbrauch mit der Todesstrafe zu ahnden, wie es in einigen Staaten der USA der Fall ist? Wäre mithin die Einordnung des Gerichtshofs als Bastion des Konservativismus eine zumindest voreilige Festlegung?

Eine Analyse der Gerichtsentscheidungen der letzten zwei Jahre erweist, dass sich im Rahmen des Obersten Gerichts eine Vierergruppe herausgebildet hat, die - in der Regel vom swing vote des Richters Anthony Kennedy unterstützt - auf breiter Front die Positionen angreift, die jahrzehntelang als anerkanntes Recht (settled law) galten. Seit der Ernennung des neuen chief justice John Roberts und des Richters Samuel Alito tendierten die Entscheidungen des Obersten Gerichts dahin, die Macht des Präsidenten im Rahmen des "Kampfs gegen den Terror" zu stärken, Maßnahmen zu Gunsten der - vor allem afroamerikanischen - Minderheiten (affirmative action) zurückzuschrauben, die Trennung von Kirche und Staat durch die Zulassung staatlicher Zuwendungen an kirchliche Institutionen zu durchlöchern, die Möglichkeiten der Wahlkampffinanzierung durch das große Geld zu erweitern und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu beschneiden.

Es wäre gänzlich verfehlt, der rechten Mehrheit eine durchgängige juristische Philosophie zuzuschreiben. Wenn es in das konservative Weltbild passt, werden entweder die verfassungsmäßigen Rechte der Einzelstaaten gegenüber der Union hochgehalten - oder sie werden negiert, wie jüngst bei der Annulierung der Affirmative-action-Programme der Städte Louisville und Seattle. Das Pionierbeispiel für dieses prinzipienlose Verfahren bildete, noch kurz vor der Installation des jetzigen rechten Blocks, das weltweit bekannte 5-zu-4-Urteil im Fall "Bush versus Gore", bei dem das Oberste Gericht überhaupt nicht in die Kompetenz des Staates Florida hätte eingreifen dürfen.

Geschickterweise interpretiert die rechte Mehrheit ihre Urteile so, dass sie wie die Anerkennung bestehender Urteile des Obersten Gerichtshofs aussehen, obwohl sie sie de facto aufheben. Diese Taktik ist insofern bedeutsam, als sie mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit (stare decisis) zusammenhängt, das durch das amerikanische Präjudiziensystem gegeben ist. Untere Gerichte haben sich nicht nur an die Präjudizien des Supreme Court zu halten, sondern auch an deren jeweilige Interpretation. Mit dieser Taktik will die rechte Mehrheit verschleiern, dass sie sich schrittweise von den Elementen der liberalen Tradition abwendet, die in den Sechzigerjahren vom Supreme Court unter dem Vorsitz von Earl Warren begründet wurde.

Diese Elemente sind von dem liberalen Rechtstheoretiker Ronald Dworkin so zusammengefasst worden: die rassisch begründete Spaltung und Isolation abbauen, den Raum der Demokratie gegenüber den großen Korporationen erweitern, einen vernünftigen Geltungsbereich für die Freiheit der Rede eröffnen, das Recht der Frauen auf Abtreibung sichern, schließlich faire Strafprozesse ermöglichen.

Nur ein Sieg Obamas kann verhindern, dass die liberale Vierer-Minderheit im Obersten Gericht abbröckelt. Denn der Doyen der Liberalen, John Paul Stevens, ist 89 Jahre alt, die große Verfechterin der Frauenrechte, Ruth Bader Ginsburg, wird aus Gesundheitsgründen nicht mehr lange weitermachen können. Die konservative Vierergruppe hingegen setzt sich aus "Youngstern" zusammen: dies ist der Unterschied zur reaktionären Vierergruppe der "alten Männer", die jahrelang die Reformen Franklin D. Roosevelts in den Dreißigerjahren blockierten. Die Hoffnung der Liberalen ruht jetzt, im Fall von Obamas Sieg, auf dem swing vote des Richters Anthony Kennedy. Die Chancen eines Übertritts ins liberale Lager stehen allerdings nicht besonders gut.

Jetzt rächt es sich, dass die Partei der Clintons der Richterwahl für alle Bundesgerichte der USA zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die Rechtskonservativen wie auch die religiösen Fundamentalisten hingegen haben hier ganze Arbeit geleistet - sowohl was die Platzierung zuverlässiger Kandidaten wie die Blockade missliebiger Richter mit den Mitteln der Verschleppung anlangt. Das Reservoir liberal gesinnter Juristen aus den Reihen der Bundesgerichte zweiter Instanz, aus der viele Richter des Obersten Gerichtshofs hervorgehen, ist deshalb ziemlich geschrumpft. Es wird für Obama schwierig werden, die Bremsen zu lockern.

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