Brüsseler Initiative gegen Überwachungskameras: Mit Sprühsahne gegen Unfreiheit

"Bitte lächeln - Sie werden gefilmt!" Unter diesem Motto bittet eine Brüsseler Initiative vor die Überwachungskameras der Stadt - denn die sollen verdoppelt werden.

Auch in Deutschland ist die elektronische Dokumentation allgegenwärtig: Überwachungskamera in Hamburg. Bild: dpa

Brüssel taz Der Mann mit der Ohrenklappenmütze schüttelt zornig die linke Faust. Auf seiner rechten Handfläche balanciert er einen kleinen Puddingkuchen, eine tarte, sie ist üppig mit Sprühsahne verziert. Doch bevor er die Sahnetorte in Richtung der Kamera schleudern kann, die den Eingang zur Metrostation Parvis St. Gilles überwacht, bremst ihn ein junger Mann aus der Gruppe der Umstehenden. "Die Verkehrsbetriebe haben uns hier Dreherlaubnis erteilt", erklärt er lächelnd, "mit Torten dürfen wir aber nicht werfen."

Vorsichtig lässt Noel Godin sein Wurfgeschoss sinken und stellt es zu den anderen Requisiten auf den Tisch neben sich zurück: Zwei weitere tartes, eine Flasche Sprühsahne und Rasierschaum stehen dort einsatzbereit. So handzahm ist der selbst ernannte Tortenguerillero, belgisch: entarteur oder englisch: cream pie flinger, normalerweise nicht. Die Attacken des 63-jährigen Belgiers sind legendär. 1969 schlug er das erste Mal zu, damals platzierte Godin eine Torte im Gesicht der französischen Autorin Marguerite Duras. 1998 erwischte es Bill Gates bei einem Brüssel-Besuch. Auch Nicolas Sarkozy, damals noch französischer Innenminister, bekam Godins Verachtung für humorlose Wichtigtuer zu spüren. Sein Lieblingsziel aber ist der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy. Ihn hat er bereits sieben Mal mit Schlagsahne verziert.

Doch warum ist nun, nach so viel schillernder Prominenz, eine harmlose, mit grauem Plastik verkleidete Überwachungskamera sein Ziel? Die Frage lässt den freundlichen Gemütsmenschen vor Empörung zittern. "Präfaschistisch" nennt er das Sicherheitskonzept der Brüsseler Polizei, nach dem die Zahl der Kameras auf öffentlichen Straßen und Plätzen in diesem Jahr verdoppelt werden soll.

Weniger ideologisch gehen die Mitglieder der Bürgerinitiative "Quand les jeunes sen mêlent" (Wenn die Jungen sich einmischen) mit dem Thema um. Unter dem Motto "Bitte lächeln - Sie werden gefilmt" hatten sie sich Anfang des Jahres an Jugendclubs, Kulturzentren und Schulen gewandt mit der Bitte, für Anfang April einen "Auftritt" vor einer Brüsseler Überwachungskamera vorzubereiten. Die Ergebnisse würden mit Video dokumentiert und auf der Seite www.souriezvousetesfilmes.be ins Netz gestellt.

"Wir sind nicht von vornherein für die Kameras oder dagegen", erklärt der 23-jährige Matthieu, der die Aktion mit organisiert hat. "Wir wollen, dass sich die Leute den öffentlichen Raum zurückerobern, dass sie sich bewusst machen, dass es diese Kameras gibt." Obwohl nur ein paar Jugendliche dem Aufruf gefolgt sind, ist Matthieu nicht enttäuscht. Immerhin machen neben Noel Godin noch andere Berühmtheiten mit, unter ihnen der Mime Pietro Pizzuti, der Comedien Olivier Leborgne und der erfolgreiche Poetry Slamer lAbz.

Zwei Kamerateams des belgischen Fernsehens dokumentieren die Aktionen, der Film soll Mitte Mai im Rahmen eines großen Debattenabends gesendet werden. Denn seit vor zwei Jahren der 17-jährige Joe Van Holsbeeck am Zentralbahnhof wegen eines MP3-Players erstochen wurde und die Täter mit Hilfe der dortigen Überwachungskamera gefasst werden konnten, halten viele Brüsseler derartige Anlagen für eine gute Sache.

Die Zwiespältigkeit einer Welt, in der elektronische Dokumentation allgegenwärtig ist und gerade von Jugendlichen via YouTube oder Handyfoto ganz sorglos genutzt wird, hat lAbz in seinem Slam beschrieben:

Attention, cela part certainement dune bonne intention, Gérer les situations, la pression, cest une prise de précautions.

Das verrät, sicherlich, eine gute Intention. Das managt die Situation, die Pression, zeugt von Vorsorgeoption.

Car tout est retransmis sur un petit carré vitrifié. Mais, vous savez, ceci est une atteinte à la vie privée!

Denn alles erscheint in kleinem Format, aber, Achtung, es ist ein Angriff auf uns, ganz privat!

Imaginez un couple damoureux qui voudrait se le prouver, Et bien, cest sur YouTube quil pourrait se retrouver!

Stell dir einfach ein verliebtes Paar vor, das die Zeichen seiner Liebe auf YouTube wiederfindet!

Nach seinem Auftritt im grauen Kunstpelzmantel, mit Sonnenbrille und schwarzer Baskenmütze sagt der 29-jährige lAbz, der seinen Lebensunterhalt als Kellner verdient: "Hier in Belgien geht es ja noch. In Frankreich, gerade in den Vorstädten, gibt es inzwischen eine Sicherheitsobsession, den totalen Kontrollzwang. Aber auch bei uns würde ich mir etwas mehr Augenmaß wünschen. Um die Gebäude der Europäischen Institutionen herum sind zum Beispiel jede Menge solcher Kameras installiert. Trotzdem liegen jeden Morgen Glassplitter von eingeschlagenen Autoscheiben auf dem Pflaster. Da fragt man sich doch, wozu die Kameras gut sind."

Das fragt sich auch Olivier Leborgne. Er nimmt die Kamera vor dem Panoramaaufzug am Justizpalast mit seiner kleinen Videokamera aufs Korn, hält sich im Stil eines Verbrecherfotos einen weißen Zettel vor die Brust, auf dem das Datum und eine Fantasienummer gedruckt sind. Schließlich lässt er bunte Gasluftballons steigen, die das Blickfeld der Überwachungskamera versperren. "Ich kann verstehen, wenn Busfahrer oder Ladenbesitzer sich mehr Sicherheit wünschen", sagt er hinterher nachdenklich. "Da können derartige Kameras ihre Berechtigung haben. Man muss nur aufpassen, dass es nicht übertrieben wird und dass die Aufzeichnungen nicht missbraucht werden."

Da macht es sich Jean-Claude Defossé, Anchorman des französischsprachigen belgischen Fernsehens RTBF, einfacher. Er gehört zu den Medienmenschen, die Auftritte vor jeder Art von Kamera genießen. An diesem Nachmittag kommt er voll auf seine Kosten, denn neben zwei RTBF-Teams schauen ihm vier Überwachungskameras über die Schulter, als er mit dem Aufzug in die Tiefe fährt. "Wir von RTBF verfolgen mit unseren Filmaufnahmen einen bestimmten Zweck", sagt er stolz. "Wir filmen, um die Bilder zu zeigen. Was aber wird mit dem Material aus den Überwachungskameras? Das weiß man eben nicht."

Der Fotograf Eric Herchaft, der die Aktionen für seine Fotoagentur dokumentiert, zuckt bei diesen Worten nachdenklich die Achseln. "Die Leute werden sich immer bewusster, dass sie ein Recht am eigenen Bild haben. Deshalb macht ihnen auch unsere Arbeit zunehmend Probleme. Ich verstehe das, obwohl ich davon lebe, dass ich Fotos von Menschen verkaufe."

Vor der Kirche von St. Gilles hat sich in der Zwischenzeit ein kleiner Menschenauflauf gebildet. Zwei junge Künstler in schwarzen Trikots haben den Platz zwischen Kirche, Kneipe und Polizeipräsidium kreuz und quer mit schwarz-gelbem Band abgesperrt. Es ist der Bereich, der von den zwei am Polizeipräsidium angebrachten Kameras abgetastet wird.

Mühsam schlängeln sich die beiden, die wie siamesische Zwillinge mit gelben Bändern aneinandergeschnürt sind, zwischen den Absperrungen hindurch. Eine Polizistin, die zum Rauchen vor die Tür getreten ist, schaut gelangweilt zu. Eine gebeugte ältere Frau schüttelt den Kopf, sie nimmt ihre Einkaufstaschen wieder auf und geht weiter.

In der ehemaligen Fußballerkneipe, die inzwischen ein Treffpunkt für Lebenskünstler und Gelegenheitsartisten ist, haben einige ihr Idol Noel Godin auf dem Platz erkannt. Ein älterer Mann mit gehäkelter Kopfbedeckung stürmt auf ihn zu und haut ihm freundschaftlich auf die Schulter: "Noel, wann lässt du wieder mal ne Torte fliegen? Sarkozy wäre doch mal wieder fällig, oder vielleicht seine neue Flamme, die Bruni …" Godin schüttelt den Kopf. "Mit Sarko ist es vorbei, der wird jetzt zu gut bewacht. Und die Bruni muss sich eine Frau vornehmen. Wenn ich das machen würde, wäre das zu phallisch."

Godin blinzelt in die kalte Frühlingssonne und umarmt mit einer Handbewegung den ganzen Platz - die rauchende Polizistin, die Marktstände, die Kleinkünstler und Studenten. Das ist sein anarchisches, liebenswertes, skurriles Brüssel. "Als mich neulich ein belgischer Polizist auf die Wache bestellt hat - wegen so einer kleinen Torten-Nummer -, da wollte er nur eines wissen: Was würde es kosten, Monsieur Godin, wenn Sie auf dem Polizeiball eine Ihrer Sahnebomben platzieren würden - direkt im Gesicht unseres Polizeichefs?"

Am 1. Juli geht Roland Vanreusel, Chef der Polizei von Brüssel-Zentrum, in Pension. Bis dahin will er sein ehrgeiziges Projekt verwirklicht haben und die Zahl der Überwachungskameras in seinem Bezirk von 94 auf 214 erhöhen. Dafür würde Godin die Torte vielleicht sogar gratis nach ihm werfen.

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