In Chinas ehemaligem Sibirien

In den ländlichen Provinzen Gansu und Qinghou im Nordwesten Chinas leben Muslime, Buddhisten und Han-Chinesen. Die Region ist Ausgangspunkt für Exkursionen im Schatten Tibets, auch eine Reise durch die kulturelle Vielfalt Chinas

von MATTHIAS MESSMER

Lanzhou, die Hauptstadt der Provinz Gansu, ist ein idealer Ausgangspunkt, die vielfältigen und bunten Kulturräume nicht Han-chinesischer Völker kennen zu lernen, das sind immerhin 56. Im Privatwagen geht es von der einstigen Goldstadt Jincheng durch die Siedlungsräume muslimischer Minderheiten. In den ländlichen Provinzen Gansu und Qinghou im Nordwesten Chinas leben Muslime, Buddhisten und Han-Chinesen. Diese bereiteten im 19. Jahrhundert der herrschenden Qing-Dynastie mit Aufständen immer wieder Probleme.Unter Mao waren sie vollkommen gleichgeschaltet, er respektierte keine kulturellen Unterschiede.

Frau Shi, unsere junge Fahrerin, die den Ausflug mit den Fremden für einen Kurzbesuch bei ihrer Familie auf dem Land nutzt, reagiert auf Fragen nach dem Verhältnis zwischen Han-Chinesen und Muslimen verhalten. Sie selbst habe keinerlei Probleme mit Muslimen, aber ihre Mutter weiß noch, wie es selbst nach 1949 immer wieder zu Gräueltaten vonseiten der Muslime gegenüber Han-Chinesen gekommen sei. Mischehen zwischen den beiden Volksgruppen sind bis heute selten, obwohl die Zentralregierung den Hui, einer der zahlreichen muslimischen Völker Chinas, im Vergleich mit anderen Minderheiten eine Sonderbehandlung zukommen lässt. Im Volksmund spiegelt der Spruch „Das Fleisch der Muslime kannst du essen, auf ihr Wort kannst du nicht zählen“ die Ressentiments wider.

Ein Dorf weiter von Shis Geburtsort bleibt das Thema präsent: Einige der muslimischen Bewohner des Dorfs auf der anderen Seite des Flusses haben den Ruf, in einen ausgedehnten Drogen- und Waffenhandel verwickelt zu sein. Bei Kontrollen komme die Polizei regelmäßig zu spät, heißt es. In der Tat wirken hier die Häuser bedeutend wohlhabender als die einfachen Lehmhütten der Han-Chinesen.

Die Gegend wechselt nun ins Liebliche: saftiges Grün von Maisfeldern und Anpflanzungen von Bäumen. Wir befinden uns im Siedlungsgebiet der mit den Mongolen verwandten Dongxiang-Volksgruppe, ebenfalls islamischen Glaubens. Überall hier entstehen riesige Moscheen. Sie erinnern daran, dass China religiöse Freiheit duldet, weil es seine Wirtschaftsbeziehungen mit den arabischen Staaten nicht aufs Spiel setzen möchte.

Es wird dunkel, und wir nähern uns dem tibetisch besiedelten Gebiet der Provinz Gansu. Schmutzig seien sie, die Tibeter, werden wir „gewarnt“, doch immerhin sei das Verhältnis zwischen ihnen und den Han-Chinesen in Ordnung. Unser Ziel ist das lamaistische Kloster Labuleng in Xiahe, das während der Kulturrevolution schwer zerstört wurde, heute jedoch wieder einen gewissen Aufschwung erlebt und mehr als eintausend Mönche beherbergt. Auch hier im hintersten Winkel der Provinz ist die Modernisierung bereits weit fortgeschritten: TV, Coca-Cola, Apfelkuchen mit Sahne und Handys. Gelbmützen und Dämonen hin oder her: Ohne Mobiltelefon, wenn möglich mit der Melodie von „Jingle Bells“ als Klingelton, läuft fast nichts.

Selbst die Aufforderung an den Fremden, anlässlich einer hier üblichen „Luftbestattung“ eines Verstorbenen gebührenden Abstand zu wahren, wird über ein Nokia mitgeteilt. Die Warnung wäre nicht nötig gewesen: Das Zerhacken der Leiche mit dem Beil des Bestatters ist wegen des Echos an den Felswänden gut hörbar, und auch die vom anderen Ende des Tals über uns kreisenden Geier, die die Leichenteile fressen, tragen das Ihre dazu bei, die eigene Neugier auf Beiwohnung dieses ungewohnten Spektakels etwas zu dämpfen. Immerhin leuchtet eines der Argumente für eine Himmelsbestattung ein: die Hygiene. Weder Blut noch Knochen bleiben am Ende der nach westlichen Maßstäben grausamen Prozedur übrig – sofern der Schnittmeister gründlich gearbeitet hat.

Über Schotterstraßen, an Yak- und Schafherden, auf Anhöhen aufgesteckten Gebetsfahnen und an Zelten tibetischer Nomadenfamilien vorbei verlassen wir Gansu Richtung Qinghou. Sattgrüne Hochebenen mit violetten Bergblümchen und duftendem Gras. Ab und zu stößt man auf auf Slogans wie „Heiraten zwischen Verwandten führt zu Kummer und Ärger“, „Entwickelt die Völkerschaften“ oder auf Hinweise zu so genannten Vorbildweideplätzen.

Bis in die moderne Zeit hinein wurde Qinghou als „chinesisches Sibirien“ bezeichnet, weil in dieser Provinz Lager für Angehörige des alten Regimes, politische Gefangene und gewöhnliche Verbrecher untergebracht waren. Heutzutage bemüht man sich nach Kräften, dieses nicht eben werbewirksame Image zu verbessern. Mit Erfolg. In Xining, der Hauptstadt der Provinz, lädt das modern gestylte „Region Coffee“ Fremde und Einheimische ein, am westlichen Globalisierungstrend teilzunehmen: Bei Musik von Elton John und einem Cappuccino bestaunt man – auf samtenen Sesseln sitzend – Bilder von Chaplin, Hemingway, Hepburn und Che Guevara. Qinghou mausert sich im Schatten Tibets als Ausgangspunkt für attraktive Exkursionen.