Streik: Die Not im Notbus

Rund 100 Ersatzbusse setzt die BVG täglich ein, um das Streikchaos zu mildern. Doch viele kommen unregelmäßig und stehen dann oft quälend lang im Stau.

starke Nerven der Fahrer machen die Touren erträglich Bild: Reutersr

Die Unruhe der jungen Frau ist nicht zu übersehen. Nervös tritt sie von einem Fuß auf den anderen und zupft sich an den Haaren. Besorgt schaut sie durchs Fenster auf die Straße. Dann reicht es ihr: "Kann ich einfach hier aussteigen - da bin ich ja zu Fuß schneller", fragt sie den Busfahrer unverblümt. Der drückt den Türöffner - der Bus steht im Stau -, und sie steigt aus, mitten auf der viel befahrenen Greifswalder Straße. Reguläre Haltestellen gibt es im Streik nicht.

Gerade mal zehn Minuten zuvor war die junge Frau eingestiegen. Sie wollte schneller aus Prenzlauer Berg zum Alex kommen, hatte gelacht vor Freude, dass überhaupt ein Bus vorbeikommt, und sogar gerufen "Wunder geschehen". An den Stau hatte sie dabei offensichtlich nicht gedacht. Jetzt überholt sie den Bus zu Fuß und verschwindet aus dem Blickfeld. Sie ist nicht die Einzige, die sich auf der Notbuslinie M4 der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) für diesen flotteren Weg entscheidet.

Seit einer Woche wird die BVG nun bestreikt. 32 Notbuslinien entlang wichtigen U-Bahn-, Bus- und Tramstrecken mit 100 Fahrzeugen sollen das Schlimmste verhindern. Für viele sind sie die einzige Möglichkeit, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule oder Arbeit zu kommen. Ihre Fahrer gehören nicht zur BVG, sondern zu Privatunternehmen. "Streikbrecher" werden sie von ihren BVG-Kollegen bisweilen verächtlich genannt.

Fahrer Ingo Wepner, der an diesem Werktag im M4 im Einsatz ist, kann damit leben. "Ich sehe es so: Ich freue mich, wenn ich Arbeit habe. Für wen, ist mir egal." Er ist seit drei Uhr nachts wach, um halb sechs war Arbeitsbeginn. Wepner hat einen klaren Auftrag: Bis zu seinem Feierabend fährt er die Strecke zwischen Alexanderplatz und dem Betriebsbahnhof Falkenberg in Hohenschönhausen, hin und her. 25 Minuten sieht sein Fahrplan für eine Strecke vor. Doch das ist völlig illusorisch.

Seine zweite Rundtour beginnt um acht Uhr morgens am Alex. Es geht stadtauswärts, immer an den Tramgleisen entlang. Diese Zeit gehört den Schülern. Entsprechend groß ist das Gedränge im Bus, schwatzend steigen sie nach und nach ein. Die Teenies schieben sich durch die Bustür und kommentieren flapsig das Geschehen: "Ich hab Angst!" - "Jetzt wirds voll" oder gleich ein abgebrühtes "Verdammt, verdammt!"

Wepner versucht, die Nerven zu behalten. "Soweit möglich, bitte nach hinten aufgehen", spricht er in sein Fahrermikrofon Richtung Gewusel im hinteren Busteil. Doch möglich ist an diesem Tag wenig, nicht nur die Straßen, auch die Notbusse sind bisweilen brechend voll. Vorne im Bus steht die Berufsschülerin Marlene Stein: "Heute dauert es noch länger als sonst. Wir sind schon eine halbe Stunde zu spät." Genauso plötzlich wie die Schülermasse gekommen ist, steigt sie in Weißensee auch wieder aus.

Es wird ruhiger. Am Betriebsbahnhof Falkensee angekommen, legt Ingo Wepner eine kurze Pause ein. Er raucht eine Zigarette, blinzelt in die Sonne. Ein Teich ist hier angelegt, Plattenbauten zeichnen sich am Horizont ab. "Gibt schon lauschige Winkel in Berlin", sagt er und seufzt. Dann fährt er wieder los, zurück in Richtung Zentrum.

Die strahlende Sonne heizt den Bus auf. Wepner kommt ins Erzählen. 33 Jahre ist er alt, seit acht Jahren fährt er Bus. Die Umschulung vom Industriemechaniker hat ihm die Bundeswehr bezahlt, dort war er fast fünf Jahre. Hatte Einsätze im Kosovo und Bosnien, "bis ich gehen durfte". Über seine Zeit beim Militär redet er nichts Schlechtes. "Damals, in Bosnien, das war schon ne interessante Tätigkeit; das hat auch Spaß gemacht. War ne Erfahrung zu sehen, was Krieg bedeutet - muss man aber nicht haben. Da überlegt man schon …" Wepner bricht unvermittelt ab. Beharrlich sieht er das Positive, "Spaß" und "Freundlichkeit" sind Wörter, die er oft gebraucht. "Aufregen lohnt sich nicht, liegt auch nicht in meiner Natur."

Je näher der Bus dem Zentrum kommt, desto langsamer geht es voran. Die Fahrgäste, die in Weißensee einsteigen, sind Rentner oder Berufstätige, zusammengepfercht stehen sie aneinander. "Da ist Geduld angesagt. Wohl dem, der jetzt in Urlaub ist", sagt Wepner vergnügt. Für ihn ist es ungleich leichter, sich in Geduld zu üben, er ist ja schon an seinem Arbeitsplatz. Seine Fahrgäste haben diesen Weg noch vor sich.

Eine von ihnen ist Gabriele Heschke. Sie steigt an der Berliner Allee ein, auf Höhe der Feldtmannstraße, und muss noch bis zu ihrem Arbeitsplatz in Tempelhof. Die Frau um die 30 trägt ihr Haar rosa gefärbt, das Lippenpiercing ist farblich abgestimmt. Sie ringt um ihre Fassung: Vor kurzem hatte sie eine Knieoperation, darf deswegen nicht Fahrrad fahren und braucht nun zwei Stunden zur Arbeit. Eine drei viertel Stunde ist sie dabei zu Fuß unterwegs. "Ich verstehe ja, dass die Leute ihren Frust kundtun. Aber das darf doch nicht auf dem Rücken anderer ausgetragen werden." Heschke stellt Laborsysteme fürs Krankenhaus her und findet den Streik unverantwortlich: "Wenn wir das machen würden, uns würden die Leute wegsterben. Und wir könnten gar nicht so schnell gucken, wie wir gefeuert würden."

Wepner hört das nicht; er zückt wieder mal seinen Fahrplan und schaut auf die Uhr. Eine Stunde hängt er hinterher. Die Autos stehen dicht an dicht. "Stau bis Spittelmarkt" warnt eine Verkehrsanzeige.

In Prenzlauer Berg, innerhalb des S-Bahn-Rings, geht dann gar nichts mehr. Seit 20 Minuten schleicht der Bus im Schneckentempo am Ernst-Thälmann-Denkmal an der Greifswalder Straße vorbei. Der einstige KPD-Vorsitzende ballt kämpferisch die Faust. Im dahinkriechenden Bus herrscht dagegen Ohnmacht. Genug Zeit, das Geschehen draußen zu verfolgen. Nicht nur Fußgänger überholen den Straßenverkehr, auch einzelne Motorradfahrer weiten ihre Kampfzone auf den Gehweg aus. "Da kennen die keine Verwandten", sagt ein Mitfahrer im Bus zweimal, kopfschüttelnd.

Das Leiden im Notbus schweißt zusammen. Während im öffentlichen Nahverkehr meist gelangweilt geschwiegen und in die Luft geblickt wird, grüßen die Mitfahrer einander höflich und wünschen Aussteigenden alles Gute.

Ein kleiner Junge lehnt sich an die Abtrennung zu Wepners Fahrersitz. "Ich bin der Olli. Und wer bist du?" - "Der Ingo", antwortet Wepner onkelhaft. Passend ermahnt der Vater: "Lass den Onkel in Ruhe." Höflich fragt der Kleine: "Onkel Ingo, warum hast du auf den Knopf gedrückt?" Die Umstehenden lachen rührselig.

Die Sonne glitzert an der Kugel des Fernsehturms, Meter um Meter lenkt Wepner den Bus zum Alex. Die restlichen Passagiere steigen aus und gehen zu Fuß weiter. "Heute macht das Busfahren richtig Spaß. Die Autos drängeln nicht so, es ist prima Wetter, und den Zeitplan kann man sowieso nicht einhalten." Wepner ist ein zäher Optimist. Auch wenn er noch zwei Runden durch den Stau vor sich hat.

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