Deeskalationstraining für Lehrer: Den richtigen Typ Gewalttäter erkennen

In Berlin trainieren Wissenschaftler 400 Lehrer, damit diese potenzielle Gewalttäter unter den Schülern durchschauen - und in Konflikten deeskalieren können.

Hier betritt womöglich ein "Frusttäter" den Schulhof. Bild: dpa

BERLIN taz Der 55-jährige Berufsschullehrer hatte keine Chance, zu reagieren. Als sein 17-jähriger Schüler ohne Erlaubnis das Klassenzimmer verlassen wollte, stellte sich der Pädagoge in den Weg - und hatte eine Faust im Gesicht, das Nasenbein war gebrochen.

Der Vorfall Ende Januar an einem Schulzentrum in Berlin-Weißensee ist ein krasser Fall, aber kein Einzelfall. Schüler prügeln los - und die Lehrer trifft es oft völlig unvermittelt. Schuld daran ist nach Ansicht von Forschern der Freien Universität Berlin die unzureichende Ausbildung der Lehrer. Das Studium, sagt Pädagogikprofessor Jürgen Körner, bereite sie nicht auf solche Extremsituationen vor. "Viele Lehrer sind schlichtweg überfordert", meint er.

Körners Team hat ein Training entwickelt, das Lehrern das richtige Verhalten gegenüber aggressiven Schülern beibringen soll. 400 Lehrer in Berlin können während einer Pilotphase kostenlos an dem Programm teilnehmen. Finanziert wird das Projekt aus EU-Mitteln und vom Land Berlin. Die wichtigste Botschaft der Wissenschaftler lautet: Lehrer müssen lernen, die Motive für Gewaltakte zu durchschauen. "Gewalttäter werden gerne als homogene Gruppe wahrgenommen", sagt Sozialpädagogin Rebecca Friedmann, die an der Entwicklung des Trainings beteiligt war. "Doch den Gewalttäter gibt es nicht."

Die Forscher unterscheiden drei Typen jugendlicher Gewalttäter. Der erste, den sie den "instrumentell Aggressiven" nennen, werde gewalttätig, um seine Ziele durchzusetzen. Solche Täter verprügelten Mitschüler, um an deren Handy oder Taschengeld zu kommen - ohne nach der Tat Schuldgefühle zu entwickeln. Der zweite Typus ist der "reaktiv Aggressive": Jugendliche, die sich sofort provoziert fühlten und nach einem "Was guckst du so?" schnell mal zuschlügen, denen ihr Handeln nach der Tat aber oft auch leidtue. Den dritten und gefährlichsten Typus nennen die Wissenschaftler den "Frusttäter": Jugendliche mit einer Wut im Bauch, die immer wieder in Ausbrüchen gipfele. Die Wahl des Opfers sei dabei völlig willkürlich, sagt Freidmann.

Lehrer müssen nach Ansicht der Wissenschaftler mit den verschiedenen Typen von Gewalttätern unterschiedlich umgehen - auch um eine Eskalation wie in Berlin-Weißensee zu vermeiden. Ein Schüler, der Gewalt als Mittel zum Zweck einsetze, reagiere auf konsequente Strafen und Kontrollen. Bei anderen Tätern könnten Lehrer hingegen durch harte Strafen Gewalt erst eskalieren lassen, statt die Luft herauszunehmen. "Überfälle passieren selten aus heiterem Himmel", sagt Körner. Dies gelte insbesondere für "Frusttäter".

Berlin ist das einzige Bundesland, in dem die Schulen verpflichtet sind, alle Gewalttaten zu melden. Demnach hat sich die Zahl der Angriffe sowohl gegen Schüler als auch gegen Lehrer seit dem Schuljahr 1999/2000 versechsfacht. Die drastischen Zahlen täuschen jedoch. Denn der Anstieg ist auch auf die höhere Aufmerksamkeit der Schulen zurückzuführen, die Vorfälle schneller melden als früher. Bundesweite Dunkelfeldanalysen sprechen von einem Rückgang der Gewalt unter Schülern.

Auch in anderen Bundesländer wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Gewaltpräventionsprojekte an Schulen initiiert. So trainiert etwa die Bereitschaftspolizei im baden-württembergischen Böblingen Schulklassen in Jiu Jitsu und Tai Chi - die Schüler und die Lehrer.

Selbstverteidigungskurse sehen die Berliner Forscher dagegen skeptisch. "Wir brauchen kein Karate für Lehrer, sondern Wissensvermittlung", sagt Sozialpädagogin Friedmann.

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