Immer noch bewegt sich der Berg

„Jetzt bin ich nicht mehr nur Soldat“, sagt Major Ali, „sondern auch Lehrer“Brunnen sind versiegt, weil die Quellen ihren Weg geändert haben

AUS ISLAMABADNILS ROSEMANN

Die Fahrt von Islamabad nach Balakot dauert drei Stunden. Es ist eine Fahrt in eine andere Welt. Statt lauer Herbstabende und Wohlstand finden wir Kälte und Armut, Leid und Trauer vor. Die Familien hier im Erbebengebiet leiden.

Transportfahrzeuge, Hubschrauber, auch spontan entstandene Gruppen wie unsere versuchen zu helfen. 87.000 Menschen wurden bei dem Erdbeben vom 8. Oktober getötet. Zehntausende Opfer werden noch unter den Trümmern vermutet. Über 100.000 Verletzte wurden bislang stationär behandelt. Offizielle Schätzungen gehen von 3,5 Millionen Obdachlosen aus. 3.800 Kilometer Straße sind zerstört, 7.200 Schulen und 184 Krankenhäuser. Die Missachtung der Bauvorschriften im Erdbebengebiet hat 50.000 Schulkinder das Leben gekostet.

Unsere Gruppe heißt „Rescue, Relieve, Rehabilitation“ – Rettung, Unterstützung, Wiederaufbau. Wir wollen Hilfsgüter, die von Künstlern, Diplomaten und ausländischen Freunden gespendet wurden, zu den Betroffenen bringen: Decken, Werkzeug, Schulmaterialien, Medikamente. Um dorthin zu kommen, müssen wir – zwanzig Personen – mit den staatlichen Autoritäten kooperieren. In einer Militärdiktatur wie Pakistan ist das natürlich die Armee. Deshalb ist unsere Ausgangsbasis das Armeelager 666 in Balakot.

Die Fahrt dorthin führt uns durch die Städte Abottabad und Mansehra, wohin die meisten Überlebenden nach dem Erdbeben geflüchtet sind. Viele Verletzte betteln am Straßenrand um Essen. Aber hier wird nicht massenhaft gestorben.

Hinter Mansehra zweigt die Straße ins Kaghan-Tal ab. Hinter dem Pass, der Grenze zur „Zerstörungszone I“, preist ein Werbeschild Trinkwasser von Nestlé an. Vor dem 8. Oktober war das Kaghan Tal eine sehr beliebte Urlaubsregion. Heute, einen Monat später, wachsen Zeltstädte auf den Resten des schnellen Geldes der Tourismusindustrie. Nestlé-Wasser kostet jetzt auf dem Markt von Balakot tausend Prozent mehr als vorher: unbezahlbare drei Euro.

Das Lager 666 wird durch das 32. Regiment Azad Kashmir organisiert. „Pakistan Zindabad!“ – Lang lebe Pakistan – schallt es, als der Hilfskonvoi die Truppe erreicht. Kommandeur Oberst Saeed hält gerade den Morgenappell ab. Danach geht jeder wieder an seine Aufgaben. Major Ali, stellvertretender Regimentskommandeur, begrüßt uns und zeigt uns seine neueste Errungenschaft: die Schule. „400 Familien wohnen in der von uns und anderen Organisationen betreuten Zeltstadt“, erklärt er. „Mit jedem Tag wurde die Verzweiflung der Erwachsenen schlimmer, ihre Kinder langweilten sich in Trümmern und Schlamm.“

Das wenige, das die von struktureller Armut betroffenen Bewohner der Bergdörfer hatten, haben sie durch das Erdbeben verloren. Menschen mit großem Stolz, die bislang autark hier in den Bergen gelebt haben, wurden durch das Erdbeben in die Zeltstädte gezwungen.

„Jetzt bin ich nicht mehr nur Soldat, sondern seit einer Woche auch Schulleiter für 119 Kinder. Wir geben ihnen, und damit ihrer Familie, einen Alltag und hoffen, dass auch die Eltern so aus ihrer Lethargie heraus finden“, führt Major Ali weiter aus.

Wir laden von einem Jeep Schulbücher, Hefte, Schreibutensilien und 50 Ranzen. Ein Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisation „World Vision“ und Major Ali führen uns durch die fünf Klassenräume aus Zeltplanen. Die Kinder staunen, freuen sich über die unverhofften Geschenke. „Wir haben vier Lehrer angestellt“, erklärt Major Ali. „Aber die meiste Unterrichtszeit gilt der Trauerarbeit – jedes Kind hier hat Familienangehörige verloren.“

Kurz bevor wir von Islamabad hierher aufgebrochen waren, hatte Militärdiktator General Pervez Musharraf über die Medien verkündet, er werde „beweisen, dass die Zyniker nicht recht haben, die behaupten, dass Regierung und Armee nicht in der Lage sind, mit der Erdbebensituation umzugehen“. Die Erfahrung in Balakot zeigt, dass hier nicht die Armee etwas bewegt, sondern ein Offizier als Einzelperson. Major Alis Ausbrechen aus der Befehlsstruktur und seine Eigeninitiative ist schlicht den katastrophalen Verhältnissen vor Ort geschuldet.

Mittlerweile wurden die Hilfsgüter auf Armeejeeps umgeladen, um das Einsatzziel Ghanool Tal sicher zu erreichen. Dort angekommen, werden die täglich nach oben korrigierten Zahlen der Zerstörung und des Leids konkret. 25.000 Menschen haben vor dem Erdbeben in diesem Seitental des Kuhnar Flusses gelebt. „Jede Familie hat Angehörige verloren, alle Häuser sind unbewohnbar, über dem Tal liegt Verwesungsgeruch“, sagt Wajahat. Er ist Dokumentarfilmer und organisiert Trekkingtouren in Pakistans Hochgebirge. Ohne seine Ortskenntnis würden wir die Hilfebedürftigen nicht erreichen. Ihre Siedlungen liegen auf bis zu 2.700 Meter Höhe.

Über eine vollkommen zerstörte Straße und vorbei an Bergen gespendeter, nutzloser Kleidung am Straßenrand, vorbei an Zuteilungsstellen militanter und islamistischer Gruppen gelangen wir zum Abzweig ins Ghanool Tal. Wir verladen zusätzlich zu den Nahrungsmitteln und Decken für die Überlebenden 500 Spitzhacken, Schaufeln, Hämmer und Sägen auf die von der Armee zur Verfügung gestellten Maultiere. Die brechen fast zusammen, und so wird die mitgebrachte halbe Tonne Nägel auf die Rucksäcke verteilt und zu Fuß ins Armeelager in Ghanool geschleppt.

Dort hat unterhalb der vollkommen zerstörten Schule, in der mehr als fünfzig Kinder den Tod gefunden haben, die Armee ihr Verteilungslager aufgebaut. Täglich werden von hier aus vierhundert Familien mit Wochenrationen versorgt. Zusätzlich werden von unserer Gruppe die Familien in den Bergen versorgt, die nicht in der Lage sind, ins Tal herunterzukommen.

Leutnant Amir in Ghanool kämpft mit seinen Gefühlen, als er auf eine Schlange von über fünfzig Männern zeigt, die auf ihre Ration warten. „Der Einsatz hier ist der Kampf gegen den Tod. Das tägliche Leid und die Armut sind schwerer zu ertragen als die Kälte. Es schwer, die Emotionen zu unterdrücken, wenn man all das Leid und die Armut hier sieht. Aber wir versuchen zu helfen, so gut wir können.“

Während die Verteilung beginnt, macht sich die erste Wandergruppe, beladen mit Decken und Werkzeugen, auf, die entlegeneren Siedlungen aufzusuchen. Brutal und schmerzhaft zeigt sich in diesen kleinen Siedlungen und Einsiedeleien die Zerstörung.

Die Berge weisen Risse von über einem Meter Breite auf. Viele Brunnen sind versiegt, weil die Quellen durch das Beben ihren Weg geändert haben. Straßen sind unpassierbar, und immer noch bewegt sich der Berg.

Sämtliche Lehmhäuser sind zerstört, neben den Ruinen sieht man die frischen Gräber. „Ich habe eine Frau und vier Kinder, darunter meine beiden ältesten Söhne verloren“, erzählt uns Saleem. Er ist gerade dabei, brauchbare Holzbalken aus dem Geröll zu holen, das früher sein Haus war. Wir versuchen zu helfen, schenken dem Mann Säge und Hammer. Saleem nimmt dankbar an, fragt auch nach Decken und Zeltplanen.

„Nein, ich gehe sicher nicht ins Tal hinunter und stelle mich bettelnd in die Schlange“, sagt er. „Ich habe zwar alles verloren, aber nicht meine Ehre“, Er lädt zum Tee unter freiem Himmel ein. Aber es bleibt nicht mehr viel Zeit für die anderen Dörfer, für die Wundversorgung von Verletzten, das Verteilen der Hilfsgüter vor der Schule von Papraan. Die Tage sind kurz geworden. Der Winter ist schon da, die Gipfel sind schneebedeckt.

Nach vier Stunden und achthundert Höhenmetern ist die Gruppe mit dem Rest ihrer kostbaren Ladung an der vollkommen zerstörten Schule von Papraan auf 2.300 Meter Höhe angekommen. Wie durch ein Wunder sind hier von 150 Kindern nur vier umgekommen. Es war Morgenappell, so dass fast alle im Freien waren, als die Erde bebte.

In Papraan landete vor einer Woche der erste Hubschrauber. Den Bewohnern hier scheint es besser zu gehen als den Menschen in den Dörfern, die wir auf dem Weg hierher getroffen haben. „Wer näher an der Quelle sitzt, hat immer mehr zu trinken“, erklärt Tehseen. Tehseen ist nicht älter als zwanzig Jahre und wurde durch das Erdbeben zum Familienoberhaupt. „Mein Vater und drei weitere Familienmitglieder sind gestorben. Alles was übrig ist, war ein Ochse, den ich gestern verkauft habe“, erzählt er. Umgerechnet siebzig Euro hat Tehseen für ihn bekommen, ein Viertel des üblichen Preises. Er will davon die Übersiedlung seiner Familie nach Mansehra finanzieren.

Jeder, der es sich leisten kann, versucht einen der wenigen Jeeps zu organisieren, um mit Hab und Gut aus dem Erdbebengebiet, vor dem nahenden tödlichen Winter zu fliehen. Tehseen wird das mit seiner Familie schaffen. Andere wiederum wollen bleiben. „Wir haben unsere Maisernte eingebracht, und wir haben etwas Vieh. Wenn wir ein Zelt hätten, kämen wir über den Winter“, sagt Ashraf Bibi, während ihre sieben Kinder sich barfuss an ihren Rock drängen.

Wir wissen, dass die bisher zur Verfügung gestellten Zelte nicht winterfest sind. In Ghanool hat das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen damit begonnen, durch InterSOS, eine italienischen Nichtregierungsorganisation, ein winterfestes Zeltdorf zu bauen. „Da gehen wir nicht hin!“, schimpft Ashraf Bibi. „Wo sollen wir denn unser Vieh lassen? Wir sind es nicht gewohnt, so eng mit Fremden zu leben. Warum gibt man uns nicht ein Zelt und lässt uns hier überleben, wo wir unsere Familienmitglieder begraben haben?“

Wir machen uns an den Abstieg. Wir haben erreicht, was wir wollten, konnten helfen. Aber viel zu wenigen.

Nach zwei Ruhetagen im Armeecamp treten wir die Rückreise an. Alles ist verteilt, und wir wissen nun besser, welche Hilfsgüter wir beim nächsten Einsatz mitbringen werden. Die pakistanische Regierung hat den Verkauf von Zelten an Nichtregierungsorganisationen verboten. Deshalb wollen wir versuchen, diese wirklichkeitsfremde Planungsstruktur aufzubrechen. Die Hilfslieferungen gehören ja den Menschen.

Zurück in Islamabad erinnern nur noch die immer weniger werdenden Hubschrauberflüge Richtung Nordosten und die immer mehr werden Koordinierungstreffen mit staatlichen und internationalen Hilfsorganisationen an das Leid in den Bergen.