Tradition Weihnachtsgans: Der wiederkehrende Horror

Weihnachtszeit, Zeit der Gans-Gerichte und der Riten darum herum. Welch ein Gegensatz zwischen dem katholischen und den evangelischen Gänseessen.

Hinterher gibts Silberperlen: Keiner soll vom fetten Essen das Kotzen kriegen. Bild: dpa

Der junge Till Ehrlich legt brav seine kleine Hand auf den toten, gerupften Vogel, den seine Mutter in der Küche zubereitet. Die große Brust der bestens gemästeten Gans fühlt sich kalt und schmierig an. Es ist Weihnachten, Zeit des jedes Jahr wiederkehrenden Horrors der Weihnachtsgans.

Für seine Eltern stellt das sinnlich sündige Vergnügen des Gansessen einen Genuss dar. Sie zerkauen mit Befriedigung das zähe Fleisch, die knusprige Haut. Hinterher werden "Silberperlen" eingeworfen, das Verdauungsmittel Cholecysmon. Keiner soll vom fetten Essen das Kotzen kriegen.

Auch ein anderer, immer wiederkehrender Ritus trägt zum gemeinsamen Erlebnis bei: die Mutter behauptet, die Gans sei misslungen, Vater und Kind müssen dagegen sprechen.

Am Abend vor dem Schmaus liegt der Neunjährige unter seiner Daunendecke und grübelt über das Schicksal der Gänse. Die Grübelei geht in Horrorvisionen über, der Mantel des heiligen Martin aus Gänsefedern, Rupfmaschinen, die dumme Gans. Hatten die Gänse nicht durch ihr Geschnatter Martin verraten, just als der sich leisen Schrittes vor dem Bischofsamt davonschleichen wollte? Die gemeine Gans ist eine Verräterin, als solche wird sie geschlachtet.

Welch ein Gegensatz zwischen dem katholischen und den evangelischen Gänseessen. Während das Fest Protestanten die Gelegenheit bietet, Zurückhaltung zu zeigen, das innere Gewissen zu beruhigen, soll bei Katholiken jeder ausgiebig zulangen. So wurde der Gänsebraten früher den Bediensteten und Armen meist von den Reichen gespendet. Nicht die christliche Nächstenliebe war das Motiv. Nein, man wollte sie so stillschweigend zu Mittätern dieser Sünde machen, denn nichts anderes kann solch ein fetter Braten sein. Diese schuldhafte Verstrickung hat Till Ehrlich schon als Kind gespürt, im Federbett und bei Tisch.

Der komplette Text erscheint am Samstag im Magazin der Tageszeitung.

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