Kolumne Gonzo: Winter vorm Balkon

Alles beim Rauchen zu sehen: Tourismus, Gentrification - und die Rückeroberung der Stadt durch die Natur.

Nachts, wenn das ganze Haus schläft, stelle ich mich gerne auf den Balkon und rauche, die Wohnung stinkt dann nicht so, ich kann mir einreden, die schädlichen Folgen meines Tabakkonsums mit der frischen Luft ein wenig zu lindern, und: es gibt immer etwas zu sehen.

Unsere Straße wird seit einigen Jahren immer beliebter, immer mehr Kneipen und Cafés eröffnen. Gestern hat mir Ersan, der Betreiber des kleinen Pizzaladens im Erdgeschoss, erzählt, dass er sein Geschäft bald aufgeben werde, einen Interessenten gebe es schon, der wolle ein kleines Café darin eröffnen. Auch seine Schwester, die hundert Meter weiter einen Kiosk betreibt, wolle zumachen, stattdessen werde auch dort bald ein Café eröffnet, direkt neben dem Café, das vor einem halben Jahr eröffnet hat, und gegenüber des neuen kleinen Cafés, das vor zwei Monaten aufgemacht hat. Ich habe keine Ahnung, wer all die Lattes und Cappuccinos trinken soll, die in unserer Straße ausgeschenkt werden. Immer, wenn ich an einem dieser neuen Cafés vorbeigehe und durchs Fenster hineinsehe, sitzt da nur die straßenbekannte leicht verwirrte Frau drinnen, unabhängig von der Jahreszeit in ihren dicken Daunenanorak gehüllt, und belabert die Kellner, die sonst nichts zu tun haben. Ich weiß nicht, wie das geht, aber wenn ich durch das Fenster des nächsten Cafés sehe, sitzt sie auch da drin. Und im übernächsten auch. Das Phänomen der vielen Cafés nennt man wohl Gentrification, die Gabe der Verwirrten Omnipräsenz. Omnipräsente Gentrification, denke ich mir und rauche.

Jetzt, in der Nacht, haben alle Cafés geschlossen, nur die Kneipen haben noch auf, aber die ersten Gäste haben offenbar schon genug und wanken unter meinem Balkon vorbei. An der Art, wie sie das tun, kann man erkennen, woher sie kommen. Berliner Betrunkene sind, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, zielstrebig nach Hause unterwegs, sie schlingern, aber sind dabei still. Im Zweifelsfall müssen sie morgen wieder raus, arbeiten. Betrunkene von auswärts sind dagegen ziellos und laut. Sie können morgen ausschlafen, in dieser total abgefahrenen Altbauwohnung des Kumpels, den sie gerade besuchen, gegen Mittag den ersten Joint rauchen, macht ja nichts, sie sind ja in Berlin.

Aber jetzt müssen sie noch nicht heim, sie wollen in die nächste Kneipe, wissen aber nicht, wo die ist, unterhalten sich lautstark darüber, wie geil das ist, in Berlin, und wenn ich Pech habe, hat Ersan vergessen, seine Bierbänke wegzuräumen, und dann setzen sie sich unter meinen Balkon, ziehen einen Sixpack Becks aus dem Rucksack und fangen an zu singen und sich noch mal darüber auszutauschen, wie geil das in Berlin sei etc. pp. Wenn ich sie dann, nach einer Stunde frühestens, dezent darauf aufmerksam mache, dass ich das schon weiß und eigentlich gerne schlafen würde, dann rufen sie mir hinauf: "Das ist Berlin, Alter", mit anderen Worten: hier können sie sich so aufführen wie daheim nie. Das sind so Momente, in denen ich am liebsten einen Eimer Wasser hinunterkippen würde. Berlin, wa? Ich geb euch Berlin, ihr Berlin-Touristen.

Jetzt kommt ein weiterer Betrunkener angewankt, kein Auswärtiger offenbar, aber auch nicht direkt aus dem Viertel, denn offenbar will er mit dem Auto heimfahren. Er braucht sehr lange, um es aufzusperren, jetzt sitzt er drin, auch das Ausparken dauert lange, jetzt steht er mit laufendem Motor mitten auf der Straße, unschlüssig. Ein paar Meter fährt er vor, dann wieder Rückwärtsgang. Er scheint eine weitere Parklücke entdeckt zu haben, vielleicht ist er noch nicht betrunken genug, um nicht zu merken, dass er zu betrunken zum Autofahren ist, sehr vernünftig. Er steuert jetzt die zweite Parklücke an, will rückwärts einparken, schafft es nicht, probiert es noch mal, schafft es nicht, gibt auf. Fährt wieder zur ersten Parklücke. Bleibt unschlüssig stehen. Entscheidet sich dann doch für die Heimfahrt. Der Motor heult auf, er ist weg.

Die Zigarette ist aus. Es ist ganz still jetzt und schneit. Ich will gerade hineingehen - da läuft ein Fuchs die Straße hinab.

Fragen zum Café? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über GESCHÖPFE

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