Kommentar Arbeitslosengeld: Sehnsucht nach dem Klassenunterschied

Beim Streit übers Arbeitslosengeld geht es nicht um "Gerechtigkeit". Es geht um den Wunsch der Menschen nach Distinktion, nach Unterscheidbarkeit.

Mancher Schlagabtausch ist in der Politik nicht unbedingt das, was er vorgibt zu sein. Am Sonntag sprechen die Vertreter von SPD und Union über die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I. Beide Fraktionen sind dafür, die Sozialleistung für Ältere zu verlängern. Es geht nur noch um die Finanzierung. Eine "Frage der Gerechtigkeit" sei das, loben sich die Sozialpolitiker selbst. Aber dieser Begriff täuscht. Es geht bei der Neuregelung nämlich nicht so sehr um sozialen Ausgleich, sondern um Unterschiedlichkeit, um Distinktion.

Die Verteilung der Jobchancen wird schon mal nicht gerechter durch die verlängerte Leistung. Ältere Arbeitslose haben nicht mehr Aussicht auf eine Stelle, nur weil sie länger das Arbeitslosengeld I beziehen. Genauso wenig aber werden ältere Erwerbslose massenhaft Stellen verweigern, nur weil sie ein paar Monate länger die Leistung erhalten, bevor sie auf Hartz IV absinken. Durch das verlängerte Arbeitslosengeld I kriegen die Betroffenen schlichtweg etwas mehr Geld - und vor allem ein besseres Selbstwertgefühl. Wer jahrelang gearbeitet und Sozialbeiträge eingezahlt habe, müsse im Falle des Jobverlustes besser dastehen als Hartz-IV-Empfänger, die niemals durchgehend geackert haben, werfen sich SPD- und Unionspolitiker in die Brust. Das verlängerte Arbeitslosengeld soll den Unterschied deutlich machen besonders zwischen der unteren Mittelschicht, die eine Lebensleistung durch Arbeit vorzuweisen hat, und den "Unterschichten", die nicht längere Zeit durchgängig erwerbstätig waren.

Die Politik versucht also eine Distinktion herzustellen, die durch die Wirtschaft verloren zu gehen droht. Vielerorts nämlich sacken die Arbeitseinkommen, auch durch wechselhafte Beschäftigungen, auf ein Existenzminimum ab, das vom Staat in ähnlicher Höhe auch als Sozialleistung an bedürftige Haushalte gewährt werden muss. Das aber ist das Problem. Es gibt eine Sehnsucht bei den Menschen nach Distinktion, nach Identität durch Unterscheidbarkeit. Diese Wünsche bedient die Politik, aber sie kann dies nur noch auf symbolische Weise tun. Und genau das ist gemeint, wenn vordergründig von "Gerechtigkeit" die Rede ist.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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