Kolumne Gonzo: Abstieg zur Hölle

Stellen Sie sich bitte kurz vor, Sie hätten nicht die geringste Ahnung davon, wer Doris Lessing ist.

Also Doris Lessing. Kennen Sie ja. Spätestens seit sie den Literatur-Nobelpreis gewonnen hat, wissen Sie, wer das ist, klar, Doris Lessing. Britische Autorin, erste Kurzgeschichten 1948, 1950 dann der Durchbruch mit "Afrikanische Tragödie", 1951 folgte der Erzählband "Der Zauber ist nicht verkäuflich", dessen auch finanzieller Erfolg es ihr ermöglichte, fortan als freie Schriftstellerin zu leben.

Aber was erzähle ich Ihnen da! Das wussten Sie alles schon längst, auch schon vor dem vergangenen Donnerstag, spätestens aber seit diesem Tag, nach Lektüre und Betrachtung all der Artikel und Dokumentationen über die Nobelpreisträgerin.

Nun stellen Sie sich aber bitte kurz vor, ich weiß, es fällt schwer, sie hätten in Ihrem Leben noch nie von Doris Lessing gehört. Stellen Sie sich weiterhin vor, Sie seien ein kleiner Journalist und Schriftsteller, der durchaus noch nicht vom finanziellen Erfolg seines bisher einzigen Buches leben kann. Und stellen Sie sich bitte vor, Sie seien zum ersten Mal in Ihrem Leben auf die Frankfurter Buchmesse eingeladen, und nicht nur dorthin, sondern auch zu einem feinen Mittagessen im kleinen Kreis mit Ihrer freundlichen Verlegerin und gewichtigen, ausgezeichneten und wesentlich beleseneren Autorinnen und Autoren, als Sie einer sind.

Lassen Sie diese Vorstellung kurz auf sich wirken. Ein ausgezeichnetes Menü wird serviert, ein Fischfilet mit einer Kruste aus etwas, das leicht nach Lebkuchen schmeckt. Schmeckts?

Nehmen Sie doch einen Schluck. Sie haben nur Wasser bestellt, Sie wollen bloß keinen Fehler machen und möglichst wenig Unsinn reden. Die Konversation kreist um das schöne Wetter in Frankfurt, Sie können da nur zustimmen, und darum, wie größer und größer die Buchmesse jedes Jahr wird, so viele Menschen, so viele Verlage und Bücher, Sie nicken, es fehlt Ihnen der Vergleich, es ist Ihre erste Buchmesse, "noch einmal diese frischen Augen haben", sagt die Verlegerin. Sie waren noch gar nicht drüben auf dem Messegelände, Sie sind später angekommen als geplant, haben nicht geschlafen vorher, die verdammte Nervosität, dann auch noch den Zug verpasst, einen später genommen, schnell ins Hotel, schnell wieder in die Stadt, jetzt sitzen Sie hier und kennen hier niemanden. "Was auch schön ist", sagt einer der Autoren, "sich einfach hinsetzen und die Menschen betrachten, wie sie in Massen vorbeiziehen", und Sie nicken wieder, das werden Sie später auch mal versuchen.

Also Doris Lessing, an die denken Sie nicht, Sie kennen Sie nicht, Sie wissen nicht das Geringste über ihre Pentalogie "Kinder der Gewalt", Sie wissen nichts über die Rezeption Lessings durch die 68er-Generation in Deutschland, Sie haben nur eine vage Ahnung davon, was eine Pentalogie sein könnte, irgendwas mit fünf, aber davon ist nicht die Rede. Sie warten auf den Nachtisch und ein Mobiltelefon klingelt und jemand bekommt die Nachricht: Doris Lessing hat den Literaturnobelpreis bekommen.

Jemand beugt sich zu Ihnen herüber, sagt "Doris Lessing hat den Literaturnobelpreis bekommen", es klingt in Ihren Ohren wie eine Frage, und Sie antworten: "Ach." Und damit könnten Sie es gut sein lassen, Sie haben keine Ahnung, da ist es besser, den Mund zu halten, das immerhin wissen Sie.

Später am Tag. Sie waren auf der Buchmesse, tatsächlich, viele Verlage, viele Menschen, noch mehr Bücher, es war ein ganz guter Tag, es haben sich sogar Menschen für Ihr Buch interessiert, das hatten Sie nicht erwartet, und abends treffen Sie einen alten Freund und erzählen vom Tag und vom Essen und dem Moment, als Ihnen gesagt wurde: "Doris Lessing hat den Literaturnobelpreis bekommen." Und stellen Sie sich vor, Sie erzählen ihm, was Sie im ersten Moment gedacht haben: "Ach, schon wieder eine deutschsprachige Autorin?", weil doch der Name so klingt, und Lessing überhaupt, den kennen Sie immerhin. Und der Freund lacht und antwortet: "Bist Du Dir sicher, dass Du das nicht auch gesagt hast?" Und stellen Sie sich vor: Sie sind sich nicht sicher. Bis heute nicht.

Willkommen in der Hölle.

Fragen zu Doris Lessing? kolumne@taz.de MORGEN: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE

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