Österreichische Schulreform: "Das sollen Leuchttürme werden"

Die Kritik an der Neuen Mittelschule ist ständisch motiviert, meint der Vorsitzende der Bildungskommission, Bernd Schilcher. Er gehört selbst der ÖVP an.

"Schulen brauchen Zeit, um Talente zu erkennen" : Bernd Schilre Bild: ap

taz: Herr Schilcher, Sie sitzen einer Kommission vor, die über die Neue Mittelschule nachdenkt - das ist eine Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis 14 Jahren. Ihre Parteifreunde von der ÖVP aber wollen die Auslese mit zehn Jahren noch verschärfen. Was ist da los?

Bernd Schilcher: Bildungspolitik wird immer heiß diskutiert. Die Menschen brauchen Sicherheit für ihre Kinder: Die wollen wissen, was ist mit den Schulen los, was wird sich ändern? Wir haben derzeit rund 70 Prozent, die sich Änderungen wünschen. Die Frage ist, in welche Richtung.

Stützt sich die ÖVP in ihrer Ablehnung der Gemeinschaftsschule auf eine schweigende Bevölkerungsmehrheit?

Wenn ich frage, wollen Sie die Gemeinschaftsschule, wird es wahrscheinlich eine leichte Mehrheit von 47:43 dagegen geben. Wenn ich aber beschreibe, was ich meine, wird es eine deutliche Mehrheit dafür geben.

Und was meinen Sie?

Es geht um individuelles Lernen. Schulen sollen sich viel Zeit nehmen können, um festzustellen: Welche Begabungen hat das Kind? Wenn man das weiß, macht man in allen Fächern begabungsfördernde Leistungskurse. Schüler, die begabt sind für Mathematik, Klavierspielen, Handwerkliches, die fasst man zusammen und fördert dort die Ausgezeichneten im Sinne der Begabtenförderung und die Schwächeren, damit sie mitkommen. Da wird dann nur mehr ein Kurs wiederholt und nicht ein ganzes Jahr. Wir haben in Österreich jährlich 50.000 Sitzenbleiber. Mit diesem Kurssystem wären es weit weniger.

Was ist daran neu? Es hat schon viele Schulversuche mit der Gesamtschule gegeben.

Die 1970er Schulversuche sind in Richtung Leistungsgruppen gegangen. Das ging in die Hose. Die drei Leistungsgruppen haben die drei Bevölkerungsschichten widergespiegelt.

Soll die neue Schule eine Ganztagsschule sein oder halbtags unterrichten?

Die Schule wird natürlich ganztägig sein, so wie wir in Österreich bis 1919 rund 150 Jahre Ganztagsschule gehabt haben. Da gibt es genug Zeit zum Üben und Festigen. Keine Hausübungen mehr - und keine Nachhilfestunden. Ein Schüler verbraucht im Durchschnitt 538 Euro für Nachhilfe pro Jahr, das sind 600 Millionen Euro. Das ersparen wir uns künftig.

Warum mauert die ÖVP so?

Das hängt an der Verbindung der ÖVP mit der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, vor allem mit der der Gymnasiallehrer. Die machen Standespolitik.

Was meinen Sie damit?

Es gibt eine Standesordnung von Kaiser Leopold I. aus dem Jahr 1691. Da sind in der ersten Klasse die Hochschulprofessoren, in der zweiten die Oberschullehrer - und erst in der vierten Klasse die Pflichtschullehrer gemeinsam mit dem fahrenden Volk. Das wirkt heute noch. Ein Gymnasial-Professor will sich nicht mit einem Hauptschullehrer zusammensetzen. Entsprechend lehnen es manche Aufsteigereltern ab, dass ihr Kind zusammen mit Ausländern in einer Klasse lernt. Das geht aber an der gesellschaftlichen Realität vorbei.

Es klingt, als müsste Ihre Kommission gar nicht mehr diskutieren?

Nein, das ist meine ganz persönliche Meinung. Sie wird in der Expertenkommission wohl von einer knappen Mehrheit geteilt. Aber wir diskutieren.

Dient die Strategie, regionale Schulversuche einzurichten, dazu, dass sich die Leute an die Gesamtschule gewöhnen?

Es ist inhaltlich nichts beschlossen. Wir wissen, dass wir Kinder aller Schichten und auch Behinderte zusammenfassen wollen. Wie das im Einzelnen aussieht, ist eine Sache, die wahrscheinlich von Modellschule zu Modellschule anders gehandhabt wird. Eine Schule, wie sie uns vorschwebt, ist die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden.

Die Schulversuche braucht man also?

Das sind keine Schulversuche. Das sollen Leuchttürme werden.

INTERVIEW: RALF LEONHARD

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