Gesundheitssystem: Ungarns Kliniken gehen die Pillen aus

Krankenhäuser können ihre Schulden bei Zulieferern nicht mehr bezahlen. Die derzeitige Krise ist eine Folge des Versuchs, das marode Gesundheitssystem zu reformieren.

Schuld an der Misere: Nein, diesmal nicht Ulla Schmidt, sondern Ungarns ehemaliger Gesundheitsminister Molnár. Bild: dpa

Ungarns Krankenhäuser sind bankrott. Medikamente können viele Kliniken nur noch gegen bare Münze einkaufen. Denn sie haben bei den Pharmakonzernen enorme Schuldenangehäuft, die sie nicht mehr bedienen können. Kleinere Krankenhäuser bekommen von den Lieferanten nichts mehr, solange sie ihre Schulden nicht abzahlen.

Laut Gesetz müssen Krankenhäuser, die mehr als 100 Millionen Forint (ca. 400.000 Euro) Schulden haben, unter die Kuratel eines städtischen Verwalters gestellt werden. Der regionale Arzneimittellieferant Ispotály, der die Außenstände nicht eintreiben kann, steht, wie die deutschsprachige Wochenzeitung Pester Lloyd berichtet, beim Konzern Hungaropharma mit 1,5 Milliarden Forint (6 Millionen. Euro) in der Kreide. Insgesamt schulden die Krankenhäuser allein für Medikamente um die vier Miiliarden Forint (16 Millionen Euro).

Die Krise ist eine indirekte Folge der Gesundheitsreform, die Minister Lajos Molnár in Gang setzte, bevor er vor Ostern zurücktrat. Molnár, der der kleinen liberalen Partei SZDSZ angehört, hatte sich vorgenommen, das marode, defizitäre und überforderte ungarische Gesundheitssystem zu sanieren. Ein Kernstück der Reform war die Einführung einer Praxisgebühr von 300 Forint (wenig mehr als ein Euro), die bei jedem Arztbesuch fällig ist. Das ist weniger, als die Ungarinnen und Ungarn bisher bezahlten.

Denn während des Sozialismus hatte sich eine Art Zweiklassenmedizin eingenistet: wer auf bestimmte Behandlungen Wert legte oder von bestimmten Chirurgen operiert werden wollte, zahlte aus der eigenen Tasche dazu, erinnert sich der Soziologieprofessor Pál Tamás.

Auch heute noch ist es üblich, dass Mediziner in öffentlichen Kliniken fette Trinkgelder einstecken. 80 bis 100 Milliarden Forint (ca. 400 Millionen Euro) wandern jährlich schwarz in die Taschen der Ärzte. Das entspricht fast zehn Prozent des Gesundheitsbudgets.

Das zweite Kernstück ist die Reduzierung der überschüssigen und teuren Krankenhausbetten. 12.000 von 50.000 Betten wurden eingespart, drei Kliniken geschlossen, 9000 Ärzte aus dem Staatsdienst entlassen. Für viele Operationen, die anderswo ambulant vorgenommen werden, behält man in Ungarn die Patienten im Krankenhaus. Denn jede Nacht vergütet die Kasse.

Die Maßnahmen bringen zwar Einsparungen. "Das fördert aber nicht die öffentliche Gesundheit", kritisiert Péter Makara, Vize-Direktor des Ungarischen Instituts für Gesundheitsforschung. Er vermißt Akzente bei der Vorbeugung. Die Ungarn leben ungesund und ernähren sich falsch. Die dadurch verursachten Kosten für das Gesundheitssystem sollen sich von elf Milliarden Forint (44 Millionen Euro )1998 bis 2006 vervierfacht haben.

Der plötzliche Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft wirkte sich nicht nur auf die Lebenserwartung der Ungarn negativ aus. Auch der Medikamentenmarkt erlebte dramatische Umwälzungen. Die heimische Pharma-Industrie hatte die Apotheken und Krankenhäuser mit qualitativ hochwertigen und billigen Arzneien versorgt. Unter dem Weltmarktregime wurden für viele Produkte Lizenzen fällig. Gleichzeitig drängten die Pharma-Multis auf den Markt und verstanden es, sich die Ärzte durch großzügige Geschenke und gesponserte Kongreßreisen zu Freunden zu machen. Die verschrieben darauf statt der günstigen Generika die teuren Markenprodukte und ließen das Defizit der Landeskrankenkassen in die Höhe schnellen.

Jetzt müssen Mediziner die billigsten Produkte verschreiben. Das führte nicht nur bei Ärzten zu Unmut. Vor allem chronisch Kranke sahen sich Produkten ausgesetzt, deren unterschiedliche Dosierung und Wirkungsweise in vielen Fällen zu gefährlichen Beschwerden führte. Die Apothekerzunft wurde zusätzlich durch die Neuerung verärgert, daß rezeptfreie Medikamente jetzt auch in Supermärkten und Tankstellen-Shops verkauft werden dürfen.

Molnárs Reform war nicht die erste nach dem Systemwechsel. Seit 1993 ist die unterste Stufe der gesundheitlichen Versorgung privatisiert. Die praktischen Ärztinnen und Ärzte, bis dahin Angestellte der Kommunalverwaltungen, dürfen seither als Selbständige arbeiten. Die staatsfinanzierte Gesundheitsversorgung wurde auf ein staatliches Kassensystem umgestellt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Rentner, Studierende und Obdachlose zahlen aber keine Beiträge. Dazu kommt, daß viele Betriebe ihre Angestellten zum Mindestlohn anmelden, um die geringsten Beiträge an die Kassa abführen zu müssen. Die wirklichen Gehälter werden schwarz ausgezahlt. Also müssen etwa zwei Millionen voll Beitragszahler mehr als zehn Millionen Versicherte erhalten.

Molnár ist zumindest angegangen, was seine Vorgänger nicht wagten. Die Früchte erntet seine 34jährige Nachfolgerin Ágnes Horváth, die im Juni verkünden konnte, über 130.000 Trittbrettfahrer hätten sich bei der Krankenkasse angemeldet. Die veränderte Verschreibepraxis habe bereits Einsparungen von Milliarden Forint bei Medikamenten gebracht. An das Lieblingsprojekt der Liberalen, die umstrittene Privatisierung der Krankenversicherung, wagt sich die Ministerin aber derzeit noch nicht heran.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.