Gitter-Politik: Die Knastpartei

Fünf Gefangene haben in der JVA Hamburg-Fuhlsbüttel eine Partei gegründet. Ein Projekt zwischen Scheinwelt und Realität.

Blick aus der Zelle - Raum für weitschweifende Ideen. Bild: dpa

HAMBURG taz Der Parteivorsitzende ist sichtlich gut gelaunt. 100 Prozent. So viel hat nicht einmal Honecker bekommen, sagt er, damals, als er raus war aus dem Zuchthaus. Honecker war ja auch einer, der zu Unrecht gesessen hatte und dann Politik machte. Diktatorische Politik, da sind die Wahlergebnisse garantiert gut. In Hamburg aber herrscht Demokratie. Undenkbar, unter solchen Verhältnissen einstimmig zum Parteichef gewählt zu werden. Harro Rudolph hat es trotzdem geschafft.

Schon im nächsten Frühjahr wird seine frisch gegründete Partei "Sozialer Gedanke Deutschland" (SGD) in Hamburg bei den Bürgerschaftswahlen antreten. Behauptet er. Die Schere zwischen arm und reich in Deutschland klaffe weit auseinander, immer mehr Menschen würden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Lösungsvorschläge anderer, etablierter Parteien seien unzureichend. "Ich", sagt Harro Rudolph, "kenne die Missstände, ich erlebe das hier hautnah mit."

Er sitzt an einem quadratischen Resopaltisch, ein Mann, der aussieht, als sei er sein Leben lang zur See gefahren, zerzaustes grau-weißes Haar, Vollbart, graue Augen, störrische Brauen, breiter hanseatischer Akzent. Tatsächlich hat er die Grenzen Norddeutschlands vermutlich nie verlassen. In diesem Sommer ist er 57 geworden.

Er riecht stark nach Rauch und nippt an einem Plastikbecher Cola. Er genießt jeden Schluck, Cola ist der Luxus der Besuchstage, und vor allem genießt er das öffentliche Interesse. Fast vier Monate hat es gedauert, bis ein Interview mit ihm möglich war. In der Zwischenzeit hat er viele Briefe geschrieben. In einem heißt es: "Wenn ich ein Vorbild aus der Historie nennen sollte, dann wäre es Fabius Maximus Verrucosus, genannt Cunctator (der Zauderer), der letzten Endes durch sein überlegtes Zögern gegenüber Hannibal großes politisches Geschick bewies." Der römische General Verrucosus war 217 vor Christus nach einer verlorenen Schlacht am Trasimenischen See vom Volk zum Diktator gewählt worden; sein Beiname, auch das kann man im Lexikon nachlesen, weist auf seine Taktik des hinhaltenden Widerstandes hin.

Vom Volk zum Diktator gewählt, Taktik des hinhaltenden Widerstands? Jetzt am Resopaltisch versucht es Harro Rudolph mit Bescheidenheit: "Also ich bin Cunctator wahrscheinlich vor allem deswegen so ähnlich, weil ich auch so häufig zögere." Nur beim Parteivorsitz nicht. "Das war bei uns irgendwie keine Frage. Einer hat mich vorgeschlagen, und dann haben mich eben alle gewählt."

Alle. Alle fünf Gründungsmitglieder: Bernd Kückmann, 42 Jahre, Schriftführer und stellvertretender Vorsitzender. Verurteilt wegen versuchten Mordes, Nötigung und Betrugs zu neun Jahren Haft. Hüsnü Bulut, 43 Jahre, Kassenwart, Ausländerbeauftragter und zweiter stellvertretender Vorsitzender. Verurteilt wegen Mordes und Anstiftung zum Mord zu lebenslanger Haft. Jürgen König, 65 Jahre, einfaches Gründungsmitglied. Verurteilt wegen Bankraubs zu mehrjähriger Haft. Dusko Loje, 50 Jahre, einfaches Gründungsmitglied. Verurteilt wegen Urkundenfälschung im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung zu fünf Jahren und neun Monaten Haft. Und natürlich er selbst: Harro Rudolph, der Parteichef, "verurteilt zu LL", wie er sagt, lebenslänglich. Wegen Mordes. Als die 86-jährige Rentnerin ihn erwischte, wie er ihr 2300 Mark stehlen wollte, zögerte Rudolph nicht lange. Er erdrosselte die Frau mit einem Nylonstrumpf.

Der "Soziale Gedanke Deutschland" ist eine Knastpartei. Gegründet wurde sie am 25. November 2006 während eines Treffens der fünf Inhaftierten in "Santa Fu", wie die Justizvollzugsanstalt in Hamburg-Fuhlsbüttel im Gefangenenjargon heißt. Viel Zeit hatten sie nicht: Eine Stunde täglich dürfen sich die Gefangenen sehen, im Anschluss an den sonntäglichen Gefängnisgottesdienst haben sie eine weitere Dreiviertelstunde für sich und ihr Projekt. Es gibt Dokumente, die belegen, dass diese Gründungsversammlung stattgefunden hat: ein zweiseitiges Protokoll der Parteiengründung, ein Grundsatzprogramm, das sich über fünf maschinengetippte Seiten erstreckt, eine Bundessatzung auf zwölf Seiten.

Gefordert werden Mindestlohn und Mindestrente, die Verstaatlichung aller "Großbanken", kostenlose Kindertagesstätten, ÖPNV zum Nulltarif. Ferner generationsübergreifender Wohnungsbau, um "der anonymen Gewalt in der (Klein-)Familie vorzubeugen", und die "Förderung der deutschen Kultur und der deutschen Sprache". Der Staat soll sich überall einmischen, nur nicht in den Strafvollzug. Dazu heißt es: "Der offene Vollzug in Deutschland muss der Regelvollzug werden." Langfristig strebt die SGD übrigens die Selbstverwaltung der Haftanstalten durch die Gefangenen an.

"Der Schock des Hierseins hat mich dazu bewogen, die Partei zu gründen", sagt Harro Rudolph. Er klingt aufrichtig erschüttert: "Ich bin ja von einem Tag auf den anderen ins Gefängnis gekommen, ohne zu wissen warum." Zehn Jahre ist das her. Harro Rudolph hatte viel Zeit, sich die Wirklichkeit so zurechtzubiegen, schönzureden und umzudeuten, bis er selbst daran glaubte: Aus einem brutalen Täter, der eine 86-jährige wegen 2300 Mark umgebracht hat, wurde so ein vermeintliches Opfer der Justiz. Wie, fragt er, soll er da Reue oder Schuld empfinden?

Jetzt hat er Mitstreiter gefunden, die seine Wahrnehmung teilen. In der SGD halten sich alle mehr oder weniger für unschuldig. Weil das aber bislang offenbar niemand sonst so sah, mussten sie selbst politisch aktiv werden - für sich und die anderen Entrechteten der Welt gleich mit. Wahrhaftig scheint in diesem Kosmos aus Selbstbetrug und Verdrängung nur die Partei.

Die Unterlagen nämlich hat Harro Rudolph "mit freundlichem Gruß" an den Bundeswahlleiter nach Wiesbaden geschickt.

Von dort heißt es, die eingereichten Dokumente würden derzeit noch geprüft. Eventuell müssten einige Satzungsabschnitte überarbeitet werden, damit sie den Mindestanforderungen des Parteiengesetzes genügten. Grundsätzlich stehe einer Aufnahme der SGD in die Parteiensammlung des Bundeswahlleiters, in der alle zugelassenen Parteien aus Deutschland verzeichnet sind, aber nichts entgegen. "Menschen verlieren nicht ihre Bürgerrechte, nur weil sie im Gefängnis sind", teilt die Behörde aus Wiesbaden mit.

Harro Rudolph grinst. Es ist ihm ernst mit der Partei, er glaubt an seine Karriere. Notfalls, sagt er, müsse er seinen Verpflichtungen als künftiger Abgeordneter eben "im Zuge des Freigangs" nachkommen. Oder jemanden "von draußen" als Vertreter schicken.

Erst einmal aber braucht er die nötigen Unterschriften von Wahlberechtigten, um überhaupt zu der Bürgerschaftswahl in Hamburg im nächsten Frühjahr zugelassen zu werden. "In Blankenese bekommen wir vielleicht keine einzige Stimme", räumt er ein. "Aber in den Brennpunkten, auf der Veddel, in Wilhelmsburg, da sitzen die Menschen, denen es schlecht geht, die verschämten Armen, die Kriminalisierten. Die brauchen uns und unterstützen uns. Weil wir ihre Interessen vertreten. Weil wir sie kennen. Weil wir so unschuldig sind wie sie."

Der Hamburger Justizsenator Carsten-Ludwig Lüdemann (CDU) beobachtet die politischen Entwicklungen im Knast gelassen. "Sonderlich ernst nehmen wir die Aktivitäten nicht", sagt sein Sprecher. "Aus Sicht des Vollzugs ist es im Prinzip egal, ob die Gefangenen sich zu einer Schachgruppe zusammentun oder in ihrer Freizeit private Parteitage abhalten." Und aus Sicht der Resozialisierung? "Da werden keine Extrawürste gebraten."

Harro Rudolph blickt durch den Raum. Es ist eine Kirche mit bunten Fenstern, einer Orgel und Holzfußboden, in der die Langzeitgefangenen aus Hamburg-Fuhlsbüttel einmal pro Woche für knapp zwei Stunden Besuch empfangen dürfen. Man muss eine Körperkontrolle und mehrere Schleusen passieren, bevor man hier drinnen in dem Gefängnisgotteshaus von einem der diskret herumschleichenden Wärter eine Tischnummer zugewiesen bekommt. Anschließend werden die Gefangenen geholt. Bis zu 450 Inhaftierte kann Haus II der JVA Fuhlsbüttel aufnehmen. In der Kirche stehen etwa 40 Besuchertische für sie bereit, nur ein Viertel ist besetzt.

"Wer hier als Insasse landet, von dem wenden sich viele Menschen ab." Die Sozialpädagogin Erfa Renner weiß das aus eigener Beobachtung. 13 Jahre lang war die heute 75-jährige Abteilungsleiterin in der JVA Fuhlsbüttel. Die Schicksale der Mörder, Vergewaltiger und Räuber, die bei ihr landeten, haben sie nicht losgelassen. Sie mochte nicht zusehen, wie sie fortan vereinsamten, allmählich den Bezug zur Wirklichkeit verloren und nach ihrer Entlassung regelmäßig rückfällig wurden. Noch heute betreut sie als ehrenamtliche Bewährungshelferin neun Entlassene und einen Methadon-Substituierten in Hamburg, sonntags besucht sie die Gefangenen in "Fu". Einige nennen sie "Mama", andere, wie Harro Rudolph, duzen sie bloß.

Renner ist die Verbindungsfrau der Partei nach draußen. Sie findet nichts dabei, eine Vereinigung von Schwerstkriminellen zu unterstützen. "Kriminalität ist erworben. Was erworben ist, kann aufgearbeitet werden." Von diesem Credo des liberalen Vollzugs lässt Erfa Renner nicht ab. Mit Naivität, betont sie, habe ihr Engagement nichts zu tun. "Was diese Leute brauchen, ist eine Tataufarbeitung, um eines Tages in ein normales Leben zurückfinden zu können, ansonsten flüchten sie sich in Scheinwelten und Aggressivität."

Doch genau diese Tataufarbeitung werde vom Strafvollzug unter der Hamburger CDU-Landesregierung nicht mehr geleistet. Umso wichtiger sei für die Gefangenen der Zusammenhalt, und sei es als Partei, allein schon aus therapeutischer Sicht. "Dass sie politisch aktiv werden, zeigt doch, dass sie sich mit dem Leben draußen beschäftigen", sagt Renner. "Sie merken: es gibt noch etwas außer mir selbst."

Harro Rudolph ist ein großer Mann mit viel Kraft und einer Stimme, die fantastische Geschichten erzählen kann. Die von seinem Patenonkel beispielsweise, der nach dem Krieg den Norddeutschen Rundfunk prägte. Oder die von seiner eigenen Karriere als Journalist, als Stadtführer, als Bekannter der Familie des Dichters Otto Ernst. Er nennt Namen, Daten, Arbeitgeber, Studien- und Wohnorte, er erwähnt Geburtstage - alles lässt sich nachrecherchieren, alles ist präzise, alles existiert. Nur mit ihm, mit Harro Rudolph, haben diese ganzen Personen, Dinge, Aufenthalte nichts zu tun.

Im Prozess um den Mord an der Rentnerin Anfang 1998 berichteten Zeugen, Harro Rudolph habe zuletzt einsam und mittellos in Hamburg gelebt. Trampelpfade hätten durch das Chaos aus Müll und Essensresten in seiner Wohnung geführt. Der psychiatrische Sachverständige bezeichnete ihn als einen "pathologischen Lügner", bei uneingeschränkter Schuldfähigkeit zur Tatzeit.

Wenn man es genau bedenkt, dann ist der "Soziale Gedanke Deutschland" womöglich sein einziger Rückhalt, wenn Harro Rudolph eines Tages das Gefängnis verlässt. "Mit einer Partei hat man ja eine ganz andere gesellschaftliche Stellung", sagt er. "Also vor allem eine andere Rechtsstellung."

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