Debatte: Putins Ausweg

Bleiben die USA bei ihren Plänen für ein europäisches Raketenabwehr-System in Europa, droht eine neue Aufrüstungsspirale. Eine gemeinsame Anlage mit den Russen wäre eine echte Alternative.

Es lohnt sich durchaus, genauer über den Vorschlag des russischen Präsidenten nachzudenken, Russland und die USA sollten eine gemeinsame Radarstation in Aserbaidschan betreiben. Moskau war am Rande des G-8-Gipfels von Heiligendamm mit diesem Vorschlag vorgeprescht, um der geplanten Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Polen und Tschechien etwas entgegen zu setzen. Beim Treffen mit US-Präsident Bush am Wochenende wird Putin die Idee erneut vortragen. Sein Argument: Wenn der Iran Langstreckenraketen testen sollte, die Europa oder gar die USA erreichen könnten (solche Raketen hat Iran noch lange nicht), wäre immer noch genug Zeit für Abwehrmaßnahmen. Gemeinsam mit Europa und den USA soll außerdem eine Bedrohungsanalyse erstellt werden. So lange sollten die einseitigen US-Stationierungspläne in Europa auf Eis gelegt werden.

US-Verteidigungsminister Robert Gates hat aber jüngst schon deutlich gemacht: Über den Aserbaidschan-Radar soll bestenfalls als eine Zugabe gesprochen werden. Aber den geplanten Radar in Tschechien und die Raketenabwehrwaffen in Polen wollen die USA unbedingt aufbauen. Doch ist keineswegs sicher, ob sie damit durchkommen. Die Mehrheit der Bevölkerung von Tschechien und Polen ist gegen die US-Systeme. Die demokratische Kongressmehrheit in den USA hat das Geld für die europäischen Stationierungsorte bei den laufenden Haushaltsverhandlungen gekürzt. Sie kritisiert das spezifische System, das Bush vorschlägt. Die Demokraten treten für eine Nato-Entscheidung, nicht für bilaterale US-Abkommen mit einzelnen europäischen Partnern ein. Putins Aserbaidschan-Vorschlag bietet eine gute Chance, dass alle Seiten ohne Gesichtsverluste Zeit gewinnen, um nach einer kooperativen Lösung zu suchen.

Um diesen Ausweg auch tatsächlich zu beschreiten, sind allerdings die Europäer gefordert. Diese sind in der Frage US-Raketenabwehr gespalten - und demonstrieren wieder einmal, wie weit der Weg zu einer gemeinsamen Außenpolitik noch ist. So fasst niemand in Brüssel das heiße Eisen an, niemand mag in der Nato eine Debatte über Für und Wider der amerikanischen Pläne initiieren. Die polnische und die tschechische Regierung sind dafür. Nicht weil sie Angst vor dem Iran haben. Sie haben Angst vor Russland und versprechen sich Vorteile von einer engeren Anbindung an die USA. Großbritannien und Dänemark sind schon heute durch die US-Radarsysteme in Fylingdales und in Grönland mit dem US-Raketenschirm verquickt. Die Regierung in Deutschland spricht mit zwei Zungen: Während die SPD vor einem neuen Wettrüsten warnt und Putins Angebot ernsthaft zu prüfen fordert, unterstützt die CDU mehr oder weniger offen Bushs Pläne. Einigkeit besteht in der EU bestenfalls darin, das Thema möglichst unter den Tisch zu kehren, um ja nicht die atlantischen Solidarität zu gefährden.

Dabei wäre die europäische Politik gut beraten, wenn sie statt treuer Gefolgschaft rationales Denken an den Tag legen würde. Denn Europa würde mit dem US-Raketenschild ein System oktroyiert, dessen Wirksamkeit nicht erwiesen ist. Es soll gegen eine Bedrohung gerichtet sein, die noch gar nicht existiert. Das einzig Sichere sind die negativen Folgen: Es erhöht die Gefahr einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland und fördert eine Aufrüstungsspirale.

Für das US-Raketenabwehrsystem sind in den letzten 24 Jahren 130 Milliarden Dollar ausgegeben worden. Zu diesem System gehören bisher 16 Raketenabwehrstellungen in Alaska und Kalifornien, bis Ende des Jahres sollen es 24 Systeme sein. Allerdings: Sechs der zwölf bisherigen Tests dieses Systems waren Fehlschläge. Ohnehin ist das System vorerst nur darauf angelegt, gegen ein oder zwei Raketen wirksam zu sein, bei denen der Gegner keine Attrappen als Gegenmaßnahmen verwendet. Das ist eine absurde Einschränkung: Wer Langstreckenraketen entwickeln kann, ist auch in der Lage, Attrappen zu bauen.

Für die Stationierung in Polen haben die USA eine Variante ihrer bereits in den USA stationierten unausgegorenen Abwehrraketen vorgesehen. Diese Ableger existieren jedoch überhaupt noch nicht. Zuverlässigkeitsgrad? Völlig ungewiss.

Die Bush-Administration rechtfertigt ihr Raketenabwehrprogramm mit der Bedrohung durch die vermeintlichen Schurkenstaaten Nordkorea und Iran. Vor sieben Jahren wurde auch der Irak als Begründung angeführt. Die Gefahr irakischer atomwaffenbestückter Langstreckenraketen existierte schon damals nicht. Jetzt könnte den USA auch die nordkoreanische Bedrohung abhanden kommen, weil der ausgehandelte Kompromiss über eine Denuklearisierung Nordkoreas gerade umgesetzt zu werden beginnt. Ohnehin haben Nordkorea und der Iran noch auf mindestens fünf bis acht Jahre hinaus gar keine Raketen, die Europa oder die USA erreichen könnten. Doch selbst wenn sie solche Waffen hätten, würden sie sie nicht einsetzen. Das wäre staatlicher Selbstmord. Als Reaktion wäre die Zerstörung des Angreifers durch das US-Atomwaffenarsenal sicher. Diese Rechtfertigung für die US-Raketenabwehr ist deshalb unsinnig.

Bleibt Bush bei seinem Stationierungskurs in Europa, wird Russland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern militärische Gegenmaßnahmen ergreifen. Dabei geht es Putin nicht um die vorerst nur geplanten zehn US-Abfangraketen in Europa. Das US-Raketenabwehrsystem sieht Elemente zu Land, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum vor - mit perspektivisch möglicherweise weit über 1.000 miteinander vernetzten Abfangraketen. Diese Perspektive macht den russischen Militärs Sorgen, weil sie damit die russische Zweitschlagsfähigkeit gefährdet sehen. Denn an der russischen Atomwaffendoktrin hat sich genauso wenig geändert wie an der amerikanischen. Die Un-Logik der Abschreckung mit Vorrüstung, Nachrüstung et cetera dominiert nach wie vor das militärische Denken. Hinzu kommt, dass die Regierung Bush seit Jahren keine Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen nimmt.

Doch das US-Raketenabwehrprogramm könnte auch China zu einem Ausbau seines kleinen Atompotenzials animieren. Dies wiederum würde Indien und Pakistan zu "Gegenmaßnahmen" provozieren. Auch eine eigentlich anstehende weitere Abrüstung der nuklearen Arsenale der nuklearen Supermächte sowie ein Verbot der Stationierung von Waffen im Weltall würden durch die US-Raketenabwehrpläne erheblich behindert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.

Um solche negativen Konsequenzen des US-Raketenschildes zu vermeiden, müsste vor allem die europäische Politik aktiv werden und ein Moratorium dieser Pläne sowie eine Prüfung der russischen Vorschläge fordern. Viel Zeit bleibt nicht. Denn nicht das iranische Bedrohungsszenario ist die Sorge, die die US-Administration zur Eile treibt, sondern das Ende von Bushs Amtszeit. Dann soll der Zement für die Raketenabwehrstellungen in Europa schon gelegt sein, damit der nächste US-Präsident nicht mehr zurück kann.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.