Debatte: Furcht vor den Fettnäpfchen

Ob der Iran über angereichertes Atom verfügen darf, bleibt international umstritten. In Deutschland ist diese Frage nicht ohne Bezug auf den Holocaust zu beantworten.

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Unter diesem Spruch ist man durchgegangen, um in den kleinen Hörsaal zu gelangen, wo Bahman Nirumand über die Lage des Iran spricht. Man befindet sich, mit anderen Worten, im Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, wo das alte Marx-Wort an der Wand stehen bleiben durfte.

Viele junge Menschen sind über die Treppenaufgänge geströmt, aber die wenigsten sind dem Ruf in diese Veranstaltung gefolgt. Die heutigen Studenten wollen sich die Welt bestenfalls interpretieren lassen - verändern wollen sie sie nicht. Sie glauben nicht, dass sie auf das, was im Iran und um den Iran herum passiert, Einfluss nehmen können.

So geht es der Öffentlichkeit insgesamt. Sie hält sich bedeckt, und so wird es kommen wie in den Wochen vor dem letzten Irakkrieg: Erst wenn die Regimenter aufgestellt sind und nur noch auf den Marschbefehl warten, wird die sogenannte Zivilgesellschaft in Großdemonstrationen ihre moralischen Bedenken zum Ausdruck bringen.

Letzten Endes ist der kleine Hörsaal aber doch voll geworden. Manch graues Haupt ist hier zu sehen. Schmunzelnd haben wir Alten uns in die engen Klappstühle gezwängt und hören uns jetzt das Referat an. Nirumand spricht frei, konzentriert und abgewogen. Zunächst über seine eigene Lage: Er ist Exiliraner, sowohl vom Schah als auch von den Mullahs verbannt. Er hat also nicht viel im Sinn mit Ahmadinedschad und seiner Politik. Aber es geht ihm doch darum, um Verständnis für die Lage des Iran zu werben. Er kann die politische Konstellation im Nahen Osten so darstellen, dass die gefährliche Umzingelung dieses Landes deutlich vor Augen tritt. Wenn man sich die Landkarte vorstellt und sieht, wie von allen Himmelsrichtungen aus feindliche Waffen auf den Iran gerichtet sind, kann man verstehen, dass sich das Land mit angereichertem Uran versehen möchte, um nein, nicht, um Atomwaffen herzustellen, sondern zur friedlichen Nutzung. Aber selbst wenn - darf sich der Hörer denken -, man könnte es verstehen.

Nicht jeder Hörer. Das durfte man von dieser Veranstaltung erwarten. Der Redner vermeidet es zwar, von Israel zu sprechen. Es ginge bei den amerikanischen Ambitionen gar nicht um die Sicherheit Israels, sondern um die Kontrolle über die Region, um Öl und Erdgas - mehr möchte er dazu eigentlich nicht sagen. Ganz lässt sich das heikle Wort Israel aber nicht umgehen, wenn man den Nahen Osten in den Blick nimmt, und ganz kurz wird der Krieg gegen den Libanon im letzten Sommer angetippt - den wir beinahe schon wieder vergessen haben, diesen absonderlichen Krieg, den Israel nicht gegen eine Regierung, sondern gegen eine Guerilla in fremdem Land geführt hat.

Wie soll man diesen Krieg, der als Verteidigungskrieg zumindest umstritten ist, ganz außen vor lassen bei der Frage, ob sich der Iran wohl und sicher fühlen darf - bei der Frage, ob die Menschen in diesem Land begreiflicherweise Angst haben oder womöglich unter Paranoia leiden?

Wie gesagt: Nicht jeder Hörer will sich da eindenken. Für manchen ist mit dieser Anforderung schon zu viel Israel-Feindlichkeit aufgekommen. Bei der Erwähnung des Sommerkriegs im Libanon entsteht in der fünften und sechsten Reihe Erregung, es fängt an zu rumpeln. Wer aber jetzt aggressive Zwischenrufe erwartet, irrt sich. Die fünfte und sechste Reihe leeren sich. Stumm, wenn auch unter Türknallen, verlässt man den Saal. Das hats bei uns damals nicht gegeben, denken wir Alten und lächeln uns an.

"Diskutieren!" ruft ein graubärtiger Mann den Hinausgehenden hinterher. Und er hat recht. Aus lauter Furcht vor den Fettnäpfchen, die um das Thema herum aufgestellt sind, kommt hier keine Debatte auf. Immer leerer wird der Saal, ohne dass die zentrale Frage im Publikum erörtert wurde. Aber das böse Wort "Antisemitismus" fällt dann letzten Endes doch: "Bloß weil man Israel kritisiert, gilt man schon als Antisemit!", stöhnt einer auf. "Möllemann!", wird zurückgerufen.

In der Frage des Atomstreits führt das nicht wirklich weiter. Die unterschiedlichen Positionen, die man in dieser Frage einnehmen kann, kommen gar nicht zur Sprache. Das mag allerdings auch daran liegen, dass die meisten von uns selbst gespaltener Auffassung sind und selbst widersprüchlich darüber denken, ob der Iran atomar angereichertes Material in Händen haben soll. Es fehlt an einer konsistenten Zukunftsperspektive für die Welt; es fehlt schon an klar artikulierten Alternativen. Denn niemand will sich in der Frage entscheiden müssen, ob die atomare Macht auf dem Globus multipolar, bipolar oder unipolar angeordnet sein soll.

Der multipolare Standpunkt würde verlangen, dass die Verfügung über Atomwaffen gleichmäßig über die Welt zu verteilen ist. Er passt gut ins postmoderne, auf Diversifikation ausgerichtete Weltbild der Gegenwart und wird auch manchmal halbherzig vertreten - aber möchte das jemand wirklich?

Der bipolare Standpunkt könnte von sehr verschiedenen Blockbildungen ausgehen. Eine davon hat Nirumand als mögliche Folge der amerikanischen Aggression vor Augen gestellt: Nah- und Fernost könnten sich gegen den Westen verbünden; auf einer Konferenz in Schanghai habe sich das schon angebahnt. Durch die so (oder anders) entstehende Bipolarität entstünde ein neues Gleichgewicht des Schreckens - möchte das jemand ernsthaft?

Der unipolare Standpunkt genießt am wenigsten Sympathie. Da die Konzentration der atomaren Gewalt in den Händen der UN unrealistisch und nur in den Händen der USA möglich ist, wird dieser Standpunkt kaum erörtert. Dabei liegt er eigentlich denjenigen nahe, die der Sicherheit Israels den absoluten Vorrang in der Weltpolitik geben. Denn im Grunde zielen ihre Überlegungen alle in die Richtung einer Weltgewaltmonopolisierung mit dem Zentrum USA. Aber diese Konsequenz wird sorgfältig gemieden.

Zwischen diesen drei Möglichkeiten pendelt die öffentliche Meinung halb bewusst hin und her. Niemand steht mit seiner Auffassung auf festen Beinen. Das ist begreiflich. Aber: Hängt die Entscheidung von der Beurteilung des Holocaust ab? In dem kleinen Hörsaal in der Humboldt-Universität kommt angesichts der auf der Schanghai-Konferenz avisierten Blockbildung die Frage aus dem Publikum: Ob die Chinesen und Inder denn gar keinen Anstoß an der iranischen Haltung zum Holocaust nehmen würden? Nein, das sei denen piepegal, sagt Nirumand, der sich inzwischen etwas gelockert hat.

Niemand möchte von sich sagen, dass ihm der Holocaust piepegal ist. Aber das Bedürfnis, die Frage nach der Weltsicherheit einmal davon losgelöst zu betrachten, ist doch groß. Die Haltung zum Holocaust kann jedenfalls nicht die Antwort auf die Frage geben, ob der Iran über nuklear angereichertes Material verfügen darf oder nicht.

SIBYLLE TÖNNIES

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