Alkoholismus: Der Tanz um die Flasche

Die Grenze zwischen Genuss und Sucht ist schmal. Sie verläuft in der Eckkneipe und im Tabakladen ebenso wie beim Dealer im Park.

Feuerrausch & Flaschenbier Bild: DPA

Mit 17 habe ich meine Todesgrenze aufgezeigt bekommen, und das war fatal. Auf einer Party habe ich eine dreiviertel Flasche Schnaps getrunken. Meine Freunde haben mich in ein Taxi gesetzt, und zum Glück ist der Fahrer nicht zu mir nach Hause gefahren, sondern in die Klinik. Dort bin ich am nächsten Morgen aufgewacht. Ich hatte eine wirklich schlimme Alkoholvergiftung und dachte mir: O. k., das war also deine Grenze. Bleib in Zukunft einfach drunter, dann kann dir nichts passieren.

Mindestens jeder vierte junge Mensch in Deutschland ist nach Einschätzung von Experten suchtgefährdet. Bis zu 5 Millionen Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 25 Jahren konsumierten zu früh zu viel Alkohol und Drogen, sagte der Geschäftsführer des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel (fdr), Jost Leune, am vergangenen Montag beim Bundes-Drogen-Kongress in Mainz. Sie trügen ein hohes Risiko, später alkohol- oder drogenabhängig zu werden. "Das Einstiegsalter für Tabakkonsum liegt bei 11,6 Jahren, für Alkohol bei 12,1 Jahren und für Cannabis bei 14,6 Jahren", sagte Leune.

Jeder fünfte Jugendliche hat den Angaben zufolge im vergangenen Monat illegale Drogen genommen. Sorgen bereitet den Experten vor allem der zunehmende Cannabis-Konsum. In Deutschland seien insgesamt rund 400.000 Menschen von Cannabis abhängig.

Die Alkohol- und Drogenexzesse bei Minderjährigen haben nach Angaben Leunes zugenommen. Diese Entwicklung sei besonders problematisch, weil sich eine Abhängigkeit im Jugendalter viel schneller entwickeln könne, erklärte Leune. Außerdem gelte als erwiesen, dass Alkohol und Tabak bei unter 14-Jährigen eher zu illegalem Drogenkonsum führen. DPA

Angefangen zu trinken habe ich mit 15, 16. Das war Erleichterungstrinken vor der Disco. Ich war sehr schüchtern und dachte, dann klappt alles besser, hab die Wirkung des Alkohols genossen. Ich hab das Bier wie ein Medikament eingesetzt, und irgendwann haben meine Kumpels und ich die Disco weggelassen und sind nur noch in die Kneipe, davon gab es in Wilhelmshaven damals ja jede Menge.

Den Laden von Reinhard Fischer hätte Christian damals sicher nicht betreten. In den Vitrinen von "Tabak und Pulver" glänzen Pfeifen, Flaschen mit edlem Rum stehen daneben, im Humidor liegen Zigarren in mannshohen Regalen. Es riecht nach Tabak, süß und schwer. Wer in dem Fachgeschäft für Tabakwaren im Berliner Stadtteil Steglitz einkauft, tut dies in der Regel nicht, um eine Sucht zu befriedigen. Sondern um zu genießen. "Sucht ist, wenn ich bei einer Sache nicht mehr weiß, warum ich sie tue", sagt Fischer. Aber "leider Gottes sind meine Kunden meist nicht süchtig", sagt Fischer. Was zynisch klingt, meint der Tabakwarenkaufmann schlicht geschäftlich. Denn der Genussraucher kann das Rauchen sein lassen, wenn es ihm zu teuer wird. Fischer verzieht das Gesicht bei dem Gedanken an Raucher, die nach dem Frühstück auf dem Weg zur Arbeit die erste Zigarre des Tages im Mund haben. "Dem Genießer schmeckt eine Zigarre in einer unangenehmen Situation doch überhaupt nicht", sagt er. Wenn ihm danach ist, raucht er selbst in der Woche drei bis fünf Zigarren und ebenso viele Pfeifen. Aber eben nur dann und wenn er es genießen kann. Fühlt er sich nicht wohl, hat er Stress oder ist erkältet, verzichtet er.

Nicht jedem gelingt das. Wer zum Genuss raucht und trinkt, der sollte sich selbst nicht betrügen und auf seinen Körper hören, denn "die Grenze zur Sucht ist immer eine Rasierklinge", sagt Fischer. Es kündige sich alles an, und wer ein klein wenig in sich hineinhorche und sich selbst befrage, der bekomme von seinem Körper eine Antwort. Und wenn diese Antwort laute: "Tus nicht", dann solle man darauf hören.

Als ich dann mit meiner Ausbildung zum Bankkaufmann angefangen habe, bin ich nach Feierabend immer direkt in die Kneipe. Ich habe mich damals nicht zugeschüttet, aber regelmäßig getrunken. Alle meine Freunde haben das Gleiche getan und ich hab mehr vertragen als die. Damit hab ich mir Männlichkeit bewiesen, dachte ich mir. Als ich dann so 19, 20 war, hab ich jeden Tag Alkohol getrunken. Aber ich habe mich nicht auffällig gefühlt, weil alle meine Freunde ja wie gesagt das Gleiche gemacht haben; und weil ich mehr Geld verdient hab als sie, konnte ich öfter mal einen ausgeben. Da hab ich mich dann gut gefühlt.

Anfang der 80er-Jahre hab ich mich dann nach Berlin versetzen lassen. Zufällig bin ich in einer Ecke gelandet, in der ich durch meinen Bruder schon alle Kneipen kannte. Da waren auch zwei Theater, da wollte ich immer mal hin, habs aber nie geschafft. Das ist mir damals schon aufgefallen, aber die Kneipe hat einfach mehr gelockt. Ich hab noch mitgekriegt, dass das problematisch werden könnte. Allmählich habe ich die Menge gesteigert, und es waren immer mehr Schnäpse dabei. Das erste Bier am Tag, vielleicht noch das zweite, das war Genuss. Danach hab ich aber nie aufgehört, sondern jedes Mal weitergetrunken. Allmählich bin ich in der Arbeit aufgefallen. Ich hab mir dann zum Beispiel vorgenommen, dass ich immer um zehn abends daheim bin. Das hat nie geklappt und sie haben mich dann zur Suchtberatung geschickt. Dort hab ich erzählt, ich müsse ja jeden Abend in die Kneipe, ich hätte daheim ja kein Licht. Ich hatte eine total schiefe Weltsicht.

Ginge es nach Tibor Harrach, wären andere Drogen, auch die so genannten harten, ähnlich einfach zu bekommen wie das Bier in der Kneipe. "Ich wüsste keinen Vorteil der Illegalität", sagt das Vorstandsmitglied von "eve and rave", einem Verein, dessen Mitglieder über Drogen informieren wollen und meist eine recht tolerante Meinung zum Thema haben und für einen mündigen und selbstbestimmten Umgang mit Drogen eintreten. Solange diese illegal seien, könne man weder Jugendschutz noch saubere Qualität kontrollieren. Leider herrsche hierzulande eine Genussfeindlichkeit - und das ärgert Harrach. Denn ihm zufolge könne man jedes Rauschmittel genießen und von ihm profitieren, wenn es im richtigen Rahmen eingenommen werde. "Dann kann Drogengebrauch zum Beispiel zu Selbstreflexion führen und soziale Kontakte katalysieren", sagt der Pharmazeut. Genießen könne der Konsument die Droge aber nur, wenn er nicht abhängig sei von ihr. Denn in der Sucht liege der Zwang und der führe zu unreflektiertem Konsum. Darin liege laut Harrach dann der Unterschied zum Genuss.

Ich war dann sechs Wochen zur Therapie im Krankenhaus. Danach wusste ich alles über Alkohol und hab trotzdem weitergetrunken. Als ich aus dem Krankenhaus draußen war, bin ich nur noch in üble Kneipen, damit ich keine Kollegen aus der Bank treffe. Es ging dann in ein paar Jahren rapide abwärts mit mir. Genießen konnte ich überhaupt nichts mehr, es drehte sich alles um meine Sucht. Ich hab nur getrunken, um mich besser zu fühlen. In der Bank haben sie mir gekündigt, weil ich einfach nicht mehr hingegangen bin. Auch aus der Wohnung bin ich rausgeflogen. Ich bin dann zu meiner Mutter zurück nach Wilhelmshaven, da war ich 34. Sie hat zu mir gesagt, besuchen kannst du uns gerne, aber wenn hier dauernd der Gerichtsvollzieher klopft, finden wir das nicht so lustig. Ich hab mir die ganze Zeit vorgemacht, dass es mir nicht mehr schlecht ginge und ich nicht mehr trinken würde, wenn ich nur wieder eine Wohnung hätte.

Für Tom Bschor ist das ein Fall wie viele andere, die Diagnose eindeutig. "Wer von den acht Kriterien der so genannten Internationalen Klassifikation der Krankheiten, kurz ICD, drei erfüllt, gilt als süchtig", sagt der Chefarzt der psychiatrischen Abteilung des Jüdischen Krankenhauses in Berlin. Die fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen, körperliche Entzugserscheinungen, Trinken mit dem Ziel einer Wirkung oder eine verminderte Kontrollfähigkeit sind solche Kriterien. Wie viel von der Droge jemand zu sich nimmt, ist nicht unbedingt von Bedeutung. So kann es durchaus sein, dass jemand, der einen Liter Wein am Tag trinkt, nicht süchtig ist. Trotzdem gilt das wohl kaum mehr als Genuss. Der liege laut Bschor in der geringen Menge; wer die überschreite, ohne süchtig zu werden, treibe Missbrauch.

"Ein Element, das nötig ist, um die Sucht zu überwinden, ist das Erkennen", sagt Bschor. "Der Süchtige darf den eigenen Lügen nicht mehr glauben." Und das Genießen kann dabei helfen. Im Jüdischen Krankenhaus gibt es dafür ein so genanntes Genusstraining, an dem psychisch kranke und süchtige Menschen teilnehmen. Denn "viele Suchtkranke wissen nicht mehr, was gut für sie ist", sagt Bschors Kollegin Silvia Rommel, Stationsleiterin und Genusstherapeutin. Bei ihr lernen die Patienten über die fünf Sinne Fühlen, Riechen, Sehen, Hören und Schmecken, sich an ihre Kraft zu erinnern, "ihre Ressourcen zu reaktivieren", wie Rommel es nennt. Jede Woche spricht sie in ihrem Training einen anderen Sinn an, meist mit Gegenständen oder Geräuschen aus der Natur. So befühlen die Patienten Steine oder Federn, hören auf Vogelstimmen oder Wasserrauschen. Simple Dinge also, die Süchtige jedoch nicht mehr wahrnehmen, weil sich alles Denken und Fühlen auf die Sucht beschränkt. "Viele erinnern sich beim Training an ihre Kindheitstage oder an eine schöne Zeit in ihrem Leben", sagt Rommel. Und durch das bewusste Genießen dieser Gefühle können die Patienten neue Kraft schöpfen.

Vor gut 14 Jahren durfte ich es dann endlich begreifen. Ich war am Ende, ganz unten, nicht mehr in der Lage, auch nur irgendetwas an meinem Leben zu genießen. In Berlin bin ich dann zur Bahnhofsmission gegangen. Dort hab ich mich hingestellt und gesagt, ich bin Alkoholiker. Gesagt hatte ich das schon oft. Aber das war das erste Mal, dass ich dahinterstand. Und da wusste ich, mit Alkohol gehts nicht weiter. Von da an hatte er seine Wirkung verloren, er betäubte mich nicht mehr. Ich musste erst ganz unten ankommen, um zu erkennen, dass sich in meinem Leben alles nur noch um den Suff gedreht hatte, nicht um mich.

Heute kann ich ganz einfache Dinge genießen. Die Natur zum Beispiel, Vögel etwa habe ich jahrelang überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Oder ich esse gerne gut, gehe ins Theater oder Kabarett, ich treffe mich mit Freunden, lese ein Buch. Sehr tugendhafte Sachen eigentlich.

Christian hat es geschafft, die Grenze zur Sucht ein zweites Mal zu überqueren. Dieses Mal in die Richtung, die sein Leben gerettet hat. "Die Chance liegt im Andersmachen", sagt er. Jeder Trinker und jeder Junkie hat angefangen Drogen zu nehmen, weil er es genossen hat. Jeder Zwölfjährige, der zur ersten Zigarette greift, genießt - wenn auch nicht unbedingt den Geschmack, so doch die Pose. Und jeder redet sich ein, die Droge im Griff zu haben. Manche bis zur Überdosis oder dem Lungenkrebs. Die Verantwortung für die Sucht liegt bei jedem Einzelnen. Und in der Antwort auf die Frage, ob man noch genießen - oder nicht mehr ohne sein kann.

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