berliner szenen Grausames Alter

Erste Hilfe

Das rostige Damenfahrrad trug ihn quietschend durch unbelebte Steglitzer Seitenstraßen. Erschrocken trat er in die Bremse. Halb von Büschen verdeckt, lag dort eine alte Frau. „Helfen Sie mir, bitte, ich bin gestürzt!“, weinte sie. „Um Himmels willen, haben Sie Schmerzen, sind Sie verletzt?“ – „Ja, mir tut alles weh!“, rief die wohl 75-jährige Oma.

Sie blutete an den Händen und hatte sich die Knie aufgeschlagen. Sie aufzurichten war gar nicht einfach, denn ihre Beine trugen sie nicht. Mit schockgeweiteten Augen murmelte sie, sie wohne „gleich um die Ecke“, und sagte immer wieder mit rasselnder Stimme: „Schrecklich, schrecklich!“

In ihrer Wohnung wollte sie nicht ruhen, drohte abermals umzufallen und begann gleichzeitig, sich in affenartiger Geschwindigkeit auszuziehen. „Jetzt setzen Sie sich doch bitte erst einmal hin, ich rufe Ihnen einen Arzt“, flehte er. Und dann blickte er sich um. Wie in Kino-Zeitlupe, zu der ein unendlich trauriges, von sanften Streichern unterlegtes Bandoneonmotiv die jähe Erkenntnis vermittelte: dass das Altern und die Einsamkeit die Hölle sind.

Es roch nach Windeln. Alles war mit überflüssigem Krimskrams und mülligen Alditüten vollgestopft. Und als seine Finger die Tastatur des olivgrünen Telefons berührten, fühlten sie eine schmandartige, undefinierbare Substanz. Die Alte stand jetzt in Unterhose vor ihm, sie zitterte und rief: „Ich brauche keine Hilfe, ich komme schon selbst zurecht!“ Durch die offene Haustür blickte plötzlich eine misstrauische Nachbarin herein: „Was machen Sie da eigentlich, junger Mann?“ – „Ich-ich wollte doch nur helfen“, stammelte er. Und dann war er auch schon wieder draußen. Auf seinem braunen Fahrrad. Bloß weg. JAN SÜSELBECK