Understatement und Größenwahn

THEATER Vom Dehnen der Zeit und vom Schrumpfen des Monumentalen: Ragnar Kjartansson und Forced Entertainment bei Foreign Affairs

Hier wird gerade Shakespeare gegeben: Forced Entertainment mit den Kleindarstellern beim „Table Top Shakespeare“ Foto: Tim Etchells

von Katrin Bettina Müller

Wenn die Möglichkeit zur Unterhaltung, zum Konsum von Musik und Kunst beispielsweise, immer nur einen Klick entfernt ist, wie verändert das die Ökonomie des Erlebens? Braucht man mehr Höhepunkte und gesteigerte, um nicht im Einerlei zu versacken? Stumpft die ständige Verfügbarkeit die Erlebnisfähigkeit ab? Was wird aus dem Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen?

Die Installationen und Aufführungen des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson sind hervorragend geeignet, solche Fragen daran aufzuhängen. Romantisch gepflegter Kulturpessimismus, minimalistisch und monumental zugleich, so könnte man die Arbeiten beschreiben, die er auf dem Festival Foreign Affairs zeigt. Das beginnt mit einer Reihe von Selbstporträts, abgebildet im Programm, in denen der Künstler sich selbst in den Spiegeln eines alten Hotels in Reykjavik gemalt hat. Mit breiten Pinselstrichen zeigt er sich stets leicht zerzaust, mit einem Bart wie van Gogh, der ihm, auch wenn man ihm auf dem Festivalgelände begegnete, zusammen mit dem hellen Anzug und hellen Hut tatsächlich das Gepräge eines Künstlers der frühen Moderne gibt.

So sitzt er im Garten, trinkt, raucht, lacht und hält Hof, derweil sich auf der großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele über acht Stunden hinweg ein Ereignis im Minutentakt wiederholt: Es ist dunkel, dann zieht ein wenig Licht auf und eine Matratze fällt aus dem Schnürboden auf die leere Bühne. Bühnenarbeiter kommen, befestigen sie an der Brücke, die sie wieder in die Höhe zieht und damit den Einfall des Lichtes wieder verschließt. Und „The Fall“ beginnt von Neuem.

Wenig zu sehen

„Das bleibt jetzt so?“, wispert fassungslos eine Stimme, schon nach drei Wiederholungen. Minutenlang versuchen sich einige bei dem Versuch zu amüsieren, den Moment des Falls mit ihrem Smartphone zu fotografieren, dann gehen die meisten. „The Fall“ läuft weiter, mal vor zwanzig, mal vor dreihundert Leuten.

Wenig zu sehen, aber: Sind nicht das Einmalige und die Reproduktion, das Ereignis und seine Wiederholung, zwei sich widersprechende Markierungen, die jedes Theater, zumal im Repertoirebetrieb, auszeichnen? Das ist hier auf den Punkt gebracht. Und darum geht es auch in Kjartanssons zweiter Arbeit, der Videoinstallation „A Lot of Sorrow“ in St. Agnes.

Die strenge Betonarchitektur der zur Galerie gewordenen Kirche passt zu den Bildern eines Konzertes der Band The National, die in Kjartanssons Auftrag den Song „A Lot of Sorrow“ immer wieder von Neuem begannen, sechs Stunden lang, im MoMA-PS1-Studio in New York. Die Intimität, mit der der Sänger nach dem Mikro greift, die Traurigkeit seiner Stimme, die Akzente der Verstörung und des Wegdriftens, die die Musiker setzen, all das birgt den Anschein des Authentischen und ist doch auch Routine.

Lebhafte Atmosphäre

Zu fragen, was braucht die Kunst, was brauchen die Künstler, hatte sich das Festival Foreign Affairs, getragen von den Berliner Festspielen, schon bei seiner Gründung vor vier Jahren vorgenommen. Den eingeladenen Künstlern größere Plattformen zu bieten, mehr als eine Arbeit zu zeigen oder ihnen mit Koproduktionsmitteln ein lang gewünschtes Projekt zu ermöglichen, gehört zu dieser Strategie.

Was braucht die Kunst? Publikum! Studenten! Zur oft lebhaften Atmosphäre auf dem Gelände rund um das Haus der Berliner Festspiele hat sicher beigetragen, dass das Festival von einem Projekt für Studenten begleitet ist. Rund 140, aus zehn unterschiedlichen Universitäten aus Deutschland, Schweden und Portugal nahmen an Workshops und Künstlergesprächen teil und vermittelten dem Ankommenden stets das Gefühl, das die Kunst hier aufgeregt diskutiert wurde.

Zu fragen, was braucht die Kunst, was brauchen die Künstler, hatte sich das Festival Foreign Affairs, getragen von den Berliner Festspielen, schon bei seiner Gründung vor vier Jahren vorgenommen

Dabei ging es auch um die Bedeutung der Zeit, die in vielen der extrem langen Performances gedehnt und verschlungen wurde. Zu den langjährigen Protagonisten solcher Performances gehört die britische Gruppe Forced Entertainment. Ihre Arbeit „Complete Works: Table Top Shakespeare“ verbindet den größenwahnsinnigen Anspruch, den ganzen Shakespeare zu machen, mit einem Schrumpfen der Darsteller und der Aufführungszeit.

Denn tatsächlich wurde jedes Drama von jeweils einem Performer erzählt, in weniger als einer Stunde. Als Stellvertreter der dramatis personae kamen dabei Haushaltsgegenstände zum Einsatz. In der „Comedy of Errors“ etwa begleitet ein Haushaltsschwamm als Diener seinen Herrn, einen Kerzenleuchter, und erhält nicht selten von diesem eins auf die Mütze. In „Troilus and Cressida“ steht ein Fläschchen Chilisoße für den trojanischen Helden Ajax, während Achill, der griechische Kämpfer, der nicht kämpfen will, die Konturen eines soften Duschgels hat. Underbergfläschchen und Batterien stellen die englischen und französischen Soldaten in „Henry VI“. Das ist alles sehr ökonomisch, und man möchte vor allem die Schlacht­szenen nie mehr anders auf der Bühne sehen.

Aber eben auch deshalb, weil die Performer von Forced so großartige Erzähler sind, Handlungsstränge geschickt aufdröseln, klug reduzieren und es beherrschen, mit minimalen Drehungen an einer Dose Sprühlack und einer Putzmittelflasche jene Spannung zu erzeugen, in der jedes weitere Wort nur ein Geständnis der Liebe sein kann. Und weil es natürlich ein großartiges Understatement ist, die ganze Theatralik auf das Hin- und Herschieben von ein paar Stellvertretern auf einem Tisch herunterzubrechen und dem Dramatiker des Welttheaters um allen repräsentativen Glanz zu bringen. Und er sich dabei noch immer stark zeigt.

Der „Table Top Shakespeare“ wird übrigens gestreamt, bei Nachtkritik kann man den Erzählern folgen. Die schlichte Form ist dafür gut geeignet.

Ragnar Kjartansson „A Lot of Sorrow”, König Galerie in St. Agnes, Alexandrinenstr. 118, Di.–So. 11–18 Uhr, bis 23. August.

Forced Entertainment „Complete Works: Table Top Shakespeare”, noch Samstag im Haus der Festspiele, 18, 19, 20 + 21 Uhr und unter www.nachtkritik.de