„Theater bewirkt mehr als Sozialarbeit“

Am Anfang von Diyalog standen türkische Arbeiter, die linkes Theater machen wollten. Aus der Kreuzberger Gruppe wurde ein Berliner Festival, das sich heute vor allem als Mittler zwischen den verschiedenen Kulturen versteht

taz: Herr Yolcu, das von Ihnen gegründete türkische Theaterfestival Diyalog feiert sein 10-jähriges Jubiläum. Wie hat alles angefangen?

Mürtüz Yolcu: Unsere Gruppe besteht seit 1983. Wir waren links orientierte, türkische Arbeiter und wollten unsere Freizeit sinnvoll mit Theater gestalten. Ein Jahr später kamen türkische Studenten dazu, die, vor allem was die Bürokratie anging, mehr Ahnung hatten als wir. Zusammen haben wir dann Stücke gemacht, die die soziale und politische Situation in der Türkei thematisierten. Aber wir haben bald gemerkt, dass wir doch nicht in die Türkei zurückkehren wollen. So fingen wir an, uns auf der Bühne mit unserem Leben hier in Berlin zu beschäftigen. „Der Gast“, unser erstes Theaterstück über einen Gastarbeiter, war ein Riesenerfolg.

Wann kam die Idee, das Ganze zu einem Theaterfestival auszuweiten?

Unsere Gruppe wurde immer professioneller. Wir machten regelmäßig zwei Produktionen im Jahr, immer ein Erwachsenenstück und ein Kinderstück, mit denen wir auch auf Tournee gingen. Zu Hause waren wir aber in Kreuzberg im Ballhaus, das schon immer ausländische Künstler gefördert hat. 1995 haben wir dann beschlossen, unser ganzes Repertoire dort zu zeigen und noch Stücke von anderen türkischen Theatergruppen dazuzuholen. Der Bedarf beim Publikum an experimentellen Sachen war da. Die türkische Kultur in Berlin beschränkte sich zu dieser Zeit auf Folklore und Videos aus der Heimat.

Diyalog gilt auch als Gegenpol zu dem konservativen türkischen Theaterhaus Tiyatrom.

Ich finde, dieses Theater braucht unbedingt ein neues Konzept. Damals war die Idee, ein rein türkischsprachiges Theaterhaus zu gründen, vielleicht gar nicht schlecht. Mittlerweile findet dort nur türkische Sprachpflege statt, und alles ist rein auf die Türkei bezogen. Es braucht neue Ideen und eine neue Generation, die dieses Theater in die Hand nimmt.

Auf welches Publikum zielen Sie?

Wir haben 30 bis 40 Prozent nichttürkisches Publikum. Das war nicht immer so. Auf den ersten Festivals waren mehr türkischsprachige Produktionen, weil wir immer noch türkisch dachten. Mit den Jahren wurde es immer internationaler, auch immer deutscher. Jetzt beim 10-Jährigen können wir sagen: Wir sind ein Berliner Festival, das von türkischen und ausländischen Künstlern gemacht wird.

Über zwei Wochen bieten Sie ein anspruchsvolles Programm mit bekannten Musikern, Regisseuren und Schauspielern. Wie finanziert sich Diyalog?

Vom Kultursenat bekommen wir jedes Jahr 20.000 Euro, wegen des Jubiläums nun 30.000 Euro. Das reicht aber gerade mal für die Grundausgaben. Jeder unserer 15 Mitarbeiter macht das ohne Geld und mit viel Herz, weil wir es für Kreuzberg unbedingt für nötig halten. Die größte Hilfe kommt vom Publikum, nicht nur finanziell durch Eintrittskarten, sondern auch ideell.

Türkische Kultur ist spätestens seit Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ hip. Das Festival selbst startet zum ersten Mal mit einem Empfang im Roten Rathaus. Woher kommt dieses plötzliche Interesse?

Die türkische Kultur kommt jetzt erst so richtig zur Aussprache, weil sich die zweite und dritte Generation von Türken hier ohne Hemmungen zu Wort meldet. Die erste Generation, also unsere Eltern, haben sich zurückgezogen und sich nicht am politischen und kulturellen Leben beteiligt. Sie wollten immer zurückgehen. Wir haben die Schwierigkeiten, auch Erniedrigungen unserer Eltern mitbekommen und halten uns nicht zurück. Und wir haben gemerkt: Durch Kultur kann man mehr erreichen als durch Sozialarbeit.

INTERVIEW: TINA HÜTTL